Ich kann mich noch gut an die tschechoslowakische Samtrevolution im November 1989 erinnern. Das ganze Land war auf den Beinen, die Plätze dröhnten und während des Tohuwabohu in Bratislava, zwischen den Wänden und Mauern, die mit verschiedenen Parolen bemalt waren, irritierte die Aufschrift eines unbekannten Köpfchens aus dem Volk. Dieses hatte auf eine Wand neben dem Aufruf „Freiheit!“ seinen Kommentar gekritzelt: „Und wozu?!“
Damals sagte ich mir: Reine Provokation! Doch im Laufe der Jahre wurde mir immer bewusster: Diese Nachricht wollte die komplizierte, oft dramatische Demokratieentwicklung in der Slowakei nach der Auflösung des gemeinsamen Staates mit den Tschechen ankündigen. Sie wollte auf die Tatsache hinweisen, dass ein unverhofft freier Bürger kaum ab morgen aktiv seine Rolle in der Gesellschaft aufnimmt und seine Stimme, mit Wort und Tat, zur Verwaltung der öffentlichen Dinge im Interesse der Gesamtheit einsetzt.
In der Slowakei gibt es seit Monaten Protestkundgebungen gegen die linkspopulistische und nationalistische Regierung, Die herrschende Macht erklärt freie Medien zu Feinden, baut den öffentlich–rechtlichen Rundfunk zu einem patriotischen Staatssender um, sie greift die Minderheiten und unabhängige Kulturszene an.
Da zu vieles an früher erinnert, denke ich bei jeder Demo an den anonymen Volkskünstler und stelle mir Fragen: Können wir, „die da unten“, einschätzen, was gerade passiert? Sind wir von den Geschehnissen nicht zu weit entfernt, um all den Hassreden, Drohungen, Einschränkungen und Angriffen entgegenzuwirken? Gibt es uns genug auf den Plätzen, oder sind wir eher dünn gestreut?
Jedes Mal sehe ich viele junge, kritisch denkende, selbstbewusste Menschen um mich herum, doch noch mehr stehen abseits. Darunter auch getretene, übersehene Ameisen, die sich mit Kleinkram abmühen, sinnloses Zeug zu sinnlosem Zeug schleppen, falsche Ziele ansteuern (wie das Land unter der Fuchtel von Robert Fico und Comp.), Umwege machen, sich wiederholt verirren ...
„Schließt euch uns an!“ möchte ich ihnen zurufen, doch bestenfalls kommen mir die Zeilen von H. M. Enzensberger in den Sinn: „Weil die Wörter zu spät kommen, oder zu früh. Weil es also ein anderer ist, immer ein anderer, der da redet, und weil der, von dem da die Rede ist, schweigt.“
Vielleicht sind die Wörter da unten (wie wir) schon in unseren Hälsen, in unseren Mündern. Vielleicht schon auf dem Weg zu unseren Zungenspitzen.