Vor einigen Tagen sah ich in einem Kinofilm ein Bild wieder, das mich einmal erschüttert hat. Eines der Bilder, die uns erschüttert haben, als wir noch Menschen („Gutmenschen“) waren. Ich erinnerte mich, wie sich dieses Bild eines toten Kindes an einem Strand in der Türkei, 2015, in die Köpfe eingeprägt hatte, ein Bild, das zugleich eine seltsame Ruhe ausstrahlte; als könnte oder müsste (so dachten wir damals) die Zeit vor dem Bild des ertrunkenen Dreijährigen stillstehen. Das Bild war unerträglich (so dachten wir damals) und forderte zum Handeln auf. So etwas durfte nicht sein.
Aylan Kurdi, das tote Kind auf dem Foto, in seiner Ruhe, als schliefe es nur, erinnerte uns an unsere Kinder, unsere friedlich schlafenden, unsere unablässig fotografierten Kinder, wir stellten uns vor, wie wir selbst unsere Kinder packen, mit ihnen in ein Boot steigen müssten, aufs Meer hinausfahren, das Schlimmste riskieren, den Tod.
Man nannte das Gefühl Empathie: Ein ertrunkenes Kind erweckte Empathie, auch bei den Rohsten von uns, so glaubten wir. Man konnte sich mit anderen identifizieren: Das ist mein Kind, das bin ich, das ist jeder, wie er sich in der Erinnerung als schlafendes Kind sieht.
Und die Empathie konnte sich in Handlungsimpulse übersetzen; oder zumindest in Gewissheiten, was zu tun sei; oder zumindest in Gewissheiten, was zu erreichen sei, wenn auch die Mittel ungewiss waren.
Wer heute in dieser Denkweise, die uns selbstverständlich erschien, steckengeblieben ist, wird verhöhnt. Wer nicht in einem dreijährigen Kind mit falscher Herkunft (er hat Eltern!) eine Bedrohung sieht, einen Terroristen und Vergewaltiger, gilt als naiv.
Sehe ich heute im Online-Standard (der liberalen Zeitung, die es noch gibt) oder auf ORF.at (der Website des öffentlich rechtlichen Rundfunks, den es noch gibt) die Meldung, dass im Mittelmeer oder vor den Kanarischen Inseln ein Flüchtlingsboot gekentert ist, alle paar Wochen taucht so eine Meldung auf, eine Zahl dabei, zwei- oder dreistellig, dazu eine kleinere Zahl von Frauen und Kindern, dann klicke ich den Bericht nicht an, es würde nichts daraus folgen, nicht einmal ein Gefühl, höchstens das milde Entsetzen über die eigene Abgestumpftheit.
Ich klicke möglichst gar keinen Artikel im Online-Standard mehr an, in dem Flüchtende, Asylwerber, Syrer, Afghanen vorkommen, weil ich weiß, welche Postings darunter stehen würden, dutzende Postings, alle in gleichem Tonfall, die sich und uns in aller Penetranz und Insistenz versichern, die Meinung der Mehrheit, die Meinung des Volkes zu vertreten. Eines Volkes, das die sogenannten Gutmenschen und Willkommensklatscher verachtet und sogenannte kulturfremdeImmigranten ablehnt. Diese Postings mögen von russischen oder ungarischen Bots stammen, von identitären Kampfpostern oder von Menschen, die eingelernt haben, was man heute denken muss, es ist egal, sie zermürben das Hirn. Sie haben mein Hirn zermürbt.
Sie triefen vor Selbstgerechtigkeit und ich will nichts mit ihnen zu tun haben, aber mein Hirn ist zermürbt, ich kann nur noch den Blick abwenden. Ich habe mit ihnen zu tun, weil ich den Blick abwende.
Es ist so weit, dass man seine Arschlochhaftigkeit so penetrant vor sich hertragen kann wie früher andere, wie vielleicht viele von uns, ihre Moral.
Dieses neue Wir, das sich in meinem zermürbten Hirn festgesetzt hat, weiß, dass es lächerlich ist, gut sein zu wollen. Es hat gelernt, stolz zu sein auf Gleichgültigkeit, Gemeinheit und Niedertracht. Es verachtet alle, die etwas wissen, die sich für etwas interessieren. Alles ist richtig, was ins eigene Hirn gespült wird und als Gedanke daherkommt, weil das schließlich wir sind. Wir sind keine Gutmenschen, wir sind etwas Besseres.
Ich sehe in einem Kinofilm das Bild des toten Aylan Kurdi, eine Stimme beklagt, dass die Bilder immer schneller werden. Sie atmen nicht mehr, sagt die Stimme. Die Bilder in ihrer andauernden schnellen Abfolge wollen uns blind machen. Es wäre wichtig, sagt die Stimme, dass die Bilder atmen. Dass man blinzelt.
Ich bleibe beim Bild von Aylan Kurdi hängen, ein Blinzeln lang, nicht mehr. Wenigstens das Entsetzen möchte ich noch einmal spüren.