In unseren Breiten geht man seit 1945 mit der größten Selbstverständlichkeit davon aus, dass Konsens über die Vorzüge der Demokratie bestehe oder zumindest der überwiegende Teil der Bevölkerung der Ansicht sei, sie müsse um jeden Preis erhalten bleiben. So unanzweifelbar scheinen diese Überzeugungen, dass man kaum mehr danach fragt. Und wenn Meinungsforscher tatsächlich einmal überprüfen, wie gefestigt diese Überzeugungen sind, dann ignorieren sie in der Regel den gesellschaftlichen Druck und den Drang zur Anpassung, der Befragte, selbst unter dem Schutz der Anonymität, daran hindert, zu offenbaren, dass sie eine Diktatur der Demokratie oder ein Deutschland außerhalb statt innerhalb der EU vorziehen.
Solch eine Aussage ist ebenso unwahrscheinlich wie das Eingeständnis, dass man lieber Menschenfleisch als Rindfleisch esse. Wenn jemand erklärt, das Mehrheitswahlrecht sei im Vergleich zum Verhältniswahlrecht undemokratisch, so kann er sich darauf verlassen, dass diese Beurteilung, unabhängig davon, ob man mit ihr übereinstimmt oder nicht, als negativ verstanden wird. Niemand wird „undemokratisch“ für eine Auszeichnung halten wie etwa „unbestechlich“.
Aber ist das Bekenntnis zur Demokratie wirklich glaubwürdig? Ist es mehr als eine konformistische Zustimmung zum Status quo, und würde es standhalten, wenn eine Diktatur an die Macht käme? In Österreich und Deutschland immerhin dürfte die Demokratie mehr als nur zum Schein von einer großen Mehrheit der Bevölkerung befürwortet werden. Die Reeducation nach 1945 hat Wirkung gezeigt. Gewiss, es gibt immer wieder Anlass, den Mangel an Demokratie zu beklagen und antidemokratische Tendenzen zu bekämpfen. Aber der nationalsozialistischen Diktatur trauert, auch ohne die Bedrohung durch Strafgesetze, nur ein kleines unbelehrbares Häufchen nach, und die Schamgrenze, die es verbietet, solche Nostalgie zu äußern, ist ziemlich hoch gesetzt. Das wird deutlich, wenn man einen Blick über die Grenzen wirft. Benito Mussolini, der polnische Marschall Piłsudski oder der Ungar Miklós Horthy waren zwar keine Hitlers, aber faschistische Diktatoren waren sie allemal. Dennoch prangt Mussolinis Name nach wie vor an zahlreichen öffentlichen Gebäuden Italiens. Dennoch führt am Gardasee ein Pfad mit erklärenden, keineswegs kritischen Tafeln zu den Stätten der Italienischen Sozialrepublik von Salò, in die sich Mussolini 1943, nach der Landung der Alliierten auf Sizilien, als Marionette zurückgezogen hat. Dennoch trägt der zentrale ehemalige Adolf-Hitler-Platz in Warschau, der zwischendurch Siegesplatz hieß, seit 1990 wieder den Namen Marschall-Józef-Piłsudski-Platz, und zahlreiche Denkmäler in Polen erinnern an den Diktator. Dennoch gibt es im Ungarn Viktor Orbáns erneut Bestrebungen, das Andenken Horthys aufzuwerten. In der Slowakei wird der katholische Priester Jozef Tiso, Staatspräsident von 1939 bis 1945, der 1947 als Kriegsverbrecher erhängt wurde, an verschiedenen Orten geehrt. In Bauska steht ein Denkmal für die lettische Waffen-SS. Jedes Jahr marschieren die SS-Veteranen durch Riga. Dass die neuen alten Nationalhelden gegen die Sowjetunion und den Kommunismus gekämpft haben, lässt vergessen, dass sie eine faschistische Innenpolitik betrieben haben, und entschuldigt sogar die Kollaboration mit den Nationalsozialisten. In zahlreichen deutschen Städten kann man sich nicht entschließen, die Hindenburgstraßen umzubenennen. Aber eine Adolf-Hitler-Straße gibt es in Deutschland nicht, und selbst in Österreich verzichtet man auf eine Dollfuß-Straße. Das Porträt des austrofaschistischen Diktators hing bis vor wenigen Jahren verschämt im Raum der ÖVP-Fraktion des Parlaments.
Gesetzt aber, es käme bei uns wieder zu einem autoritären Regime. Gesetzt, elementare Grundrechte würden abgeschafft. Ist damit zu rechnen, dass es massenhaft Widerstand gäbe, dass auch dann die Verlangen nach Demokratie anhielte und Folgen hätte? Aus der jüngsten Geschichte wird gern das Beispiel der verschwundenen DDR genannt. Die Rede ist von einer „unblutigen Revolution“. Helmut Kohl hatte wohl Recht, als er sagte: „Es ist ganz falsch, so zu tun, als wäre da plötzlich der heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen und hat die Welt verändert.“ Es war der ökonomische Bankrott der Sowjetunion, was zum unblutigen Ende der DDR geführt hat. Wie anders wollte man erklären, dass auch die anderen Staaten des sowjetischen Machtbereichs innerhalb kürzester Zeit zusammengebrochen sind? Alles die Folge der Montagsdemonstrationen an der Nikolaikirche? Und wieso hat das nicht 1956 in Budapest oder 1968 in Prag funktioniert? Den dazu passenden Satz sagt in John Fords Spielfilm „The Man Who Shot Liberty Valance“ der Journalist Maxwell Scott: „When the legend becomes fact, print the legend.“ („Wenn die Legende zur Tatsache wird, druck die Legende.“) Wir sind Augenzeugen einer Legendenbildung, die man genauer Geschichtsfälschung nennen sollte, und die Legende wird gedruckt, auf Informationstafeln überall in Leipzig und in Schulbüchern, weil sie zum Faktum geworden zu sein scheint. Denn es will ihr niemand widersprechen. Es bringt eben mehr Wählerstimmen ein, wenn man dem Volk schmeichelt, als wenn man die Wahrheit sagt. Und in der Demokratie benötigt man Wählerstimmen, wenn man eine bestimmte Politik durchsetzen oder, nicht so lautstark, dafür aber umso motivierter, Posten und Privilegien erobern oder behalten will.
Die Wahrheit lautet wohl: von einer Diktatur bedroht fühlen sich lediglich die kleine politisch interessierte oder gar aktive Minderheit, die in Gegnerschaft zum herrschenden Regime steht, sowie jene Minderheiten, die, unabhängig von ihren politischen Überzeugungen, verfolgt werden wie die Juden, die Zigeuner oder die Behinderten im Dritten Reich. Der überwiegenden Mehrheit ist es ziemlich egal, ob die Grundpfeiler der Demokratie, die Meinungs-, Presse- und die Versammlungsfreiheit, respektiert werden oder nicht. Wer ohnedies die Meinung der Herrschenden teilt oder – zumindest zur Politik – gar keine Meinung hat, den kratzt es nicht allzu sehr, wenn abweichende Meinungen unterdrückt werden.
Die große Mehrheit der Menschen fühlt sich nicht sonderlich eingeschränkt, wenn es statt einer Vielzahl von Medien nur eine Einheitspresse und einen Staatsfunk gibt. Mal ehrlich: wer liest schon, selbst in unserer Demokratie, mehr als eine Tageszeitung? Wie viele Menschen wehren sich, wenn die Medien einander immer ähnlicher werden? Wie viele Menschen besuchen politische Versammlungen, die sie vermissen würden, wenn sie verboten wären? Kann man es den Menschen verübeln, dass es sie nicht sonderlich erregt, wenn ihnen bestimmte Freiheiten, von denen sie ohnedies kaum Gebrauch machen, vorenthalten werden? Sie können die Geheimpolizei ignorieren, weil sie vor ihr nichts zu verheimlichen haben. Für sie zählen andere Werte und Tatsachen als jene, die gemeinhin mit der Vorstellung von Demokratie verbunden sind.
Die große Mehrheit litt im Dritten Reich an den Folgen des Krieges, an der Rationierung von Lebensmitteln, an der Tatsache, dass die Väter und Brüder an die Front mussten. Die Folgen der Diktatur – die Inhaftierung von Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftlern, die Deportation der jüdischen Nachbarn, das Verbot, „Feindsender“ zu hören – waren den meisten Menschen egal oder wurden wirksam aus dem Bewusstsein verdrängt. In vielen Bereichen lief der Alltag weiter wie zuvor. Darüber berichten die Geschichtsbücher wenig. Man sollte es aber wissen, wenn man begreifen will, warum sich die Menschen in Diktaturen verhalten, wie sie sich eben verhalten. Nur wenn ein Familienmitglied verkrüppelt oder gar nicht nach Hause kam, wurde diese Routine unterbrochen.
In den fünfziger Jahren prägte das Bild von den „grauen Massen“, das Klaus Mehnert in seinem Erfolgsbuch „Der Sowjetmensch“ entworfen hatte, die Vorstellung von Russland. In Wahrheit wurden auch dort Geburtstage gefeiert, Ausflüge ins Grüne unternommen und Konzerte besucht. Auch im Spanien Francos, im Portugal Salazars, im Argentinien der Militärjunta oder im Chile Pinochets tranken die Menschen ihren Kaffee an der Bar und frequentierten am Wochenende die Stadien, während die Minderheit der aktiven Regimegegner verschleppt, gefoltert und ermordet wurde.
Die Mehrheit der Menschen richtet sich, wenn sie keine Alternative sieht, mit Diktaturen ein. Der demokratische Konsens verschwindet schnell, wenn er mit Gefahren verbunden ist.
Mehr noch: Wenn die Menschen mit der Politik in einer Demokratie – zu Recht oder zu Unrecht – unzufrieden sind, wenn ihnen die politische Klasse – zu Recht oder zu Unrecht – als korrupt erscheint, wird sehr rasch der Ruf nach einem starken Mann (es kann auch eine starke Frau sein), nach dem „guten Diktator“ laut. Wer wollte eine Wette darauf abschließen, dass nicht eine ganze Menge Leute Tomas Stockmann aus Henrik Ibsens „Volksfeind“ zustimmen, der sagt: „Die Mehrheit hat die Macht, leider; im Recht ist sie nicht. Im Recht bin ich und noch ein paar, sind die einzelnen. Das Recht ist immer bei der Minderheit.“ Was er mit der Minderheit meint, spricht er gegen Ende des Stücks aus: „Der stärkste Mann hier auf dieser Welt, das ist der, der ganz für sich allein steht.“ Deshalb sind Lügen und Betrug von Politikern in der Demokratie kein Kavaliersdelikt. Sie sind verantwortlich für den Aufstieg von Abenteurern und Demagogen, die ganz gewiss keine Demokratie im Sinn haben. Und das ist nicht bloß eine theoretische Erwägung. Die Möchtegerndiktatoren von morgen stehen schon in den Startlöchern.
Von Churchill stammt der berühmte Ausspruch: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ Will sagen: die Demokratie ist, mit all ihren Schwächen, die beste politische Möglichkeit. Man muss sie nicht idealisieren. Schon gar nicht sollte man sie als Selbstverständlichkeit voraussetzen und die Kritik an ihren Defiziten unterdrücken. Das bestärkt nur jene, die sie grundsätzlich in Zweifel ziehen.
Freilich darf sich Demokratie nicht auf Wahlen alle vier oder fünf Jahre beschränken. Sie muss mehr sein als die Feststellung von Mehrheiten. Es reicht nicht, wenn sie eine Regierung durch eine Stimmenmehrheit legitimiert. Die Mehrheit hat auch und gerade in der Demokratie nicht das Recht, Minderheiten zu benachteiligen. „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden.“ Diese Bestimmung von Rosa Luxemburg ist die Grundlage einer Demokratie, die diesen Namen verdient.
Die Realität ist freilich von diesem Ideal weit entfernt. Selbst in einer Demokratie, in der es mit keinerlei Risiko verbunden wäre, dagegen zu protestieren, nimmt es der überwiegende Teil der Bevölkerung billigend hin, dass serbische und makedonische Roma und Sinti aus Baden-Württemberg in ihre Herkunftsländer verfrachtet werden, wo sie massiver Diskriminierung ausgesetzt sind. Wie tief ist der demokratische Konsens im öffentlichen Bewusstsein tatsächlich verankert? Immerhin gab es in Freiburg eine Mahnwache, als Flüchtlinge aus ihren Betten gerissen wurden. Immerhin gibt es auch an anderen Orten Flüchtlingsinitiativen, die gegen die Abschiebungen opponieren. Sie, nicht die von einer Mehrheit gewählten Politiker, sind die wahren Demokraten. Es gehört zum Wesen der repräsentativen Demokratie, dass ihre gewählten Vertreter frei entscheiden können. Strittig ist, wie weit und in welcher Form sie sich gegenüber dem Souverän, dem Staatsvolk, auch ohne imperatives Mandat, verantworten müssen. Edmund Burke hat es vor 240 Jahren in seiner „Rede an die Wähler von Bristol“ so formuliert: „Euer Vertreter schuldet euch nicht nur seine Tatkraft, sondern auch seine Urteilskraft; und er verrät euch, anstatt auch zu dienen, wenn er seine Urteilskraft eurer Meinung opfert.“ Es gehört aber auch zum Wesen der Demokratie – und das ist ein entscheidender Unterschied zur Diktatur –, dass man diese Vertreter abwählen kann.
Hinzu kommt, dass man, statt unhinterfragt zu tun, als lebten wir in einer Demokratie, die es zu verteidigen gilt, begründen muss, warum die Verhinderung von Zuständen, in denen Eltern den Arzt für ihr krankes Kind nicht bezahlen können, in denen Menschen das Grundrecht auf eine Wohnung vorenthalten wird, in denen sie sich abends hungrig ins Bett, so sie eins haben, legen, in dem sie keine gesicherte Chance bekommen, eine Schule zu besuchen und einen Beruf zu erlernen, als Kriterien für die Bestimmung einer Demokratie weniger tauglich sein sollen als das Recht, „Le Monde“ zu lesen.
Die Demokratie bewährt sich nicht darin, wie sie den Willen der Mehrheit durchsetzt, sondern darin, wie sie die Rechte der Minderheiten schützt. Auch Diktaturen, die von Mehrheiten unterstützt oder zumindest toleriert werden, sind Diktaturen.