Das Wort Normalität kann nicht für sich alleine stehen. Es ruht nicht in sich selbst. Immer bezieht es sich auf andere. Steht dort und richtet seinen Blick in die Nähe oder Ferne, jedenfalls weg von einem selbst und ganz woanders hin. Die Normalen, diejenigen, die die Normalität leben, ja, in ihr zu leben scheinen, befinden sich nun einmal hier. Und die anderen – die folgerichtig nicht normal, also abnormal sind – die existieren ganz wo anders: nämlich dort. Dort ist niemals hier, und hier ist niemals dort.
Deshalb: Das Wort Normalität grenzt ab, es kann nicht anders; es weist etwas (oder jemanden) von sich und trennt etwas, das laut der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eins sein sollte. Oder kann der Mensch auf wundersame Weise in zwei Gruppen eingeteilt werden? Diejenigen, die sich auf die Stirne das Wort Normalität geheftet haben, das wie durch Zauberhand nur unter Schwarzlicht sichtbar wird; sie scheren nicht aus, fallen nicht auf, sind nicht aufmüpfig, wähnen sich brav, als Teil der Mehrheit und dabei ganz sicher nicht am Tellerrand sitzend, nein, jedenfalls rechtschaffen und durch und durch richtig; es sind diejenigen ohne Zweifel, denn die, die richtig liegen, dürfen nicht zweifeln, sonst würden sie mit ihren einzementierten Überzeugungen wanken – und sie lägen falsch. Das geht freilich nicht. Dann wären sie auf der Seite der anderen, der eigenartig Komischen, der Abnormalen. Das sind die, die all das machen, was nicht in den Normalitäts-Topf passt. Die, die sich trauen laut aufzuschreien, wenn eine Ungerechtigkeit geschieht, wenn zum Beispiel eine Diskriminierung von Minderheiten wie LGBTQI+ Personen stattgefunden hat, die fraglos nicht brav sein können und sicherlich und überhaupt zu schräge Gedanken haben, sich auf jeden Fall nicht normal kleiden, ja, als Ganzes nicht normal aussehen und sich darüber hinaus nicht normal, nicht der Norm entsprechend verhalten, durch ihr Auftreten auffallen, ausscheren und eben nicht, wie die, die in der Normalitätssuppe schwimmen, nach oben buckeln und nach unten sticheln, so wie es sich für die Normalen, die normativ Geprägten gehört, so, wie wir es kennen halt und so wie es schon seit Ewigkeiten gewesen ist. Diese Person ist einfach als Ganzes nicht so, wie die Normalitätsgetriebenen immer schon aufgetreten sind, sie verhält sich partout nicht so, wie es sein soll, wie es geschrieben steht. Nur wo? Wo steht denn das geschrieben? In der Bibel? In den vom Hausverstand geprägten Gehirnwindungen? In den Parteibüchern vielleicht? Steht dort irgendetwas über Normalität?
Bundespräsident Alexander van der Bellen hat bei der Eröffnung der Bregenzer Festspiele 2023 gefragt: „Wer bestimmt, wer normal ist und wer nicht?“ Ex-Kanzler Karl Nehammer antwortete in einer Replik darauf, dass er es wichtig halte, Normalität in Österreich zu benennen. Alledem ging voraus, dass die Niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner in einem Standard Gastkommentar die Stimme für die „normal denkende Mehrheit der Mitte“ erhob.
Aber zurück zu den Basics: Was sagt denn eigentlich der Duden darüber? Normalität, die – Substantiv, feminin – normaler Zustand, normale Beschaffenheit, Vorschriftsmäßigkeit.
Der Vorschrift entsprechend? Ja, das ist eindeutig, aber was ist ein normaler Zustand? Das ist laut Duden der Zustand unter Normalbedingungen. Aha, also schaue ich diesmal unter Normalbedingung nach. Und dort, endlich, eine genaue Beschreibung: festgelegte physikalische Bedingung (z. B. Druck, Temperatur) für einen bestimmten Zustand eines Stoffes. So ist das also. Etwas, das normal ist, sollte demnach festgelegt sein. Das wiederum würde aber bedeuten, dass es sich nicht ändert. Dass Normalität dieselbe Normalität bliebe, dass sie sich nie verändern könnte, was – wie wir wissen – nicht der Wahrheit entspricht. Die Norm bewegt sich mit der Zeit, verändert sich, geht mit der Mode, beugt sich, biegt sich, wandert weiter, bessert Fehler aus, bricht. Begriffe, die vor fünfzig Jahren noch ohne Probleme unter der Begrifflichkeit der Normalität verwendet werden konnten, wie zum Beispiel das N-Wort, werden heute – unter normalen Umständen – nicht mehr ausgesprochen. Hier hat sich die Norm verschoben. Das Normale von damals ist das Abseitige von heute, ja, sogar das genaue Gegenteil. Rosa für Buben war vor etwa hundert Jahren völlig normal, ja mehr noch, die Farbe war ihnen vorbehalten. Was sagt uns das? Homosexualität wurde im antiken Griechenland als normalangesehen, in anderen Kulturkreisen jahrhundertelang als völlig abnormal und wurde verboten (und ist es leider heute noch in vielen Ländern, in manchen sogar auf Todesstrafe) … in Österreich wurde Homosexualität erst 1971 legalisiert und seit 2019 können gleichgeschlechtliche Paare heiraten. Es ist, wenn auch noch relativ neu, heute also etwas völlig Normales. Bei uns. In unserer Mitte. In unserer normal denkenden Mehrheit der Mitte. Hier wurde das Abnormale zum Normalen, das Abartige zur Normalität: Die Zeit hat hier heimlich Alchemie betrieben.
Aber wenn alles das, was unter dem Wort Normalität subsummiert werden kann, beweglich ist, und gar nicht so starr, wie manche behaupten und wie wir gesehen haben in nicht wenigen Fällen sogar zum exakten Gegenteil umschwenkt, warum wird dann – gerade vor anstehenden Wahlen – das Normalitätsschild stets derart hochgehalten? Aus Angst? Angst, an Sicherheit einzubüßen? Angst, die eigene Identität zu verlieren? Aber muss ich mich denn, nur weil diese eine Person sich etwas bunter anzieht, auch so kleiden? Flöße ich, als nicht binärer Autor, einem Cis-Mann etwa Angst ein? Fühlt er sich, wenn er mir gegenübersteht, weniger männlich als zuvor? Warum führen unter den Schwarz-und-Weiß-Sehenden all die Grautöne in dieser Welt zu Panik? Nur weil es eine größere Vielfalt an Daseinsformen gibt, heißt es doch bitte nicht, dass deshalb etwas Dagewesenes verschwinden muss! Es kann sich ändern. Ja, das ist möglich. Es muss sogar. Und ich weiß schon: Veränderung erzeugt zuweilen Angst. Überhaupt ist dieses Wort aus fünf Buchstaben der eigentliche Übeltäter, der zur Spaltung führt und zur Versuchung, die Normalitäts-Keule aus dem Sack zu holen.
Nun, zusammengefasst, so ist das also: Wir hier – und die Anderen dort; Zusammenhalt hier – und Ausgrenzung dort; weich nach innen – und hart nach außen; Verständnis unter unseresgleichen – und Hass gegenüber alles Abnormalem bzw. dem, was aktuell als solches gilt. Und morgen? Ja, da kann alles anders sein: Das Normale – was auch immer dann unter diese Glocke passen könnte – wird zum Abnormalen erklärt und im Gegenzug das Abnormale nicht selten zeitgleich in die Kategorie der Normalität erhoben. Die Zeit ist der Schlüssel.
Aber wenn wir das alles wissen, warum lernen wir nicht mit der Zeit? Immer wieder dieselbe Leier. Jahrhunderte, Jahrtausende lang. Es ist ein langweiliges Spiel, finden Sie nicht auch? Es ödet mich an. Ehrlich. Ich bin raus!