Nach dem Krieg haben sich unzählige Nationalsozialisten nahezu wortident dahingehend verteidigt, anständig geblieben und damit unschuldig zu sein. „Anständig“ gehört fraglos zu den missbrauchtesten sprachlichen Opfern der Hitler-Barbarei und bleibt leider für alle Zeiten kontaminiert.
Niemand hat die Pervertierung dessen, was bei aller weltanschaulichen Divergenz im Deutungsbogen des Begriffes ursprünglich angelegt war, so auf den Punkt gebracht wie Heinrich Himmler 1943 in einer seiner berühmt-berüchtigten Posener Reden: „Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet‘, sagt ein jeder Parteigenosse, ‚ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.‘ […] Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“
Wenn Jörg Haider bei einem Treffen der Waffen-SS, in deren Reihen sein Vorvorvorgänger als FPÖ-Chef Friedrich Peter Dienst tat, davon sprach, diejenigen, die den alten Werten die Treue hielten, wären anständig geblieben, wussten alle Anwesenden, was er meinte. „Rechts ist für mich rechtschaffen, anständig und ehrlich“, erklärte FPÖ-Chef Heinz Christian Strache dem Falter, und sein Nachfolger Herbert Kickl warb dafür, dass in der Person von Walter Rosenkranz Hausverstand, Bodenhaftung, Anständigkeit, Patriotismus und Bürgernähe in die Hofburg einziehen müssten, womit er Amtsinhaber Alexander van der Bellen mittelbar unterstellte, unanständig zu sein.
„Wir waren anständig“, so wehrte Präsidentschaftskandidat Kurt Waldheim in einem Atemzug mit der beliebten Phrase, im Krieg nur seine Pflicht erfüllt zu haben, ein paar Jahrzehnte zuvor das Hinterfragen seiner spät aufgedeckten biographischen Lücken ab. Im Kontext des Begriffsinhaltes dieses Satzes während der NS-Zeit eignete sich eine solche Aussage wohl kaum, um den im besetzten Griechenland stationierten jungen Wehrmachtsoffizier nachvollziehbar zu entlasten.
“Anstand“, „Anständigkeit“, „anständig“ – dieser Wortfamilie geht es nach wie vor gut. Die sich ihrer ohne Bedenken bedienen, sind selbstverständlich nicht alle am rechten Rand anzusiedeln. Und es gibt natürlich auch eine umgangssprachliche Nutzung: Arbeitnehmer jedweden Geschlechtes wollen anständig entlohnt werden, der Lieblingsfußballverein hat zuweilen eine anständige Abfuhr zu verkraften.
In meinem aktiven Wortschatz fehlt „anständig“ seit dem Erwachsenwerden. Es widerstrebt mir, diese für mich irreparabel beschädigte Vokabel zu nutzen. Wie „Pflicht, „Ehre“ oder „Treue“ ist sie für mich vom Bezugsrahmen, der bei den Rechtsaußen gegeben ist, nicht mehr eindeutig abgrenzbar. Einen moralischen Kompass kann sie keinesfalls bieten.