Vielleicht ließe sich Kultur definieren als die Summe der Antworten, die Menschen auf die Herausforderungen des Zusammenlebens in großen und kleinen Gruppen entwickelt haben und immer wieder neu entwickeln müssen, denn was gestern Möglichkeiten eröffnet hat, kann morgen als zusätzliches Hindernis Wege versperren, sogar zu Verklausungen mit katastrophalen Folgen führen, weil das angeschwemmte Treibgut Lebensgrundlagen zu vernichten droht.
Kultur kann nicht Besitz sein, auch nicht in dem Sinne wie eine Eigenschaft Besitz sein kann, sie ist das Substrat einer Haltung und der Werte, denen wir uns verpflichtet fühlen. Die Erfahrungen und Leistungen der Vergangenheit bilden das Fundament, auf dem sie baut, das treuhändig für kommende Generationen bewahrt und erhalten werden soll, immer bei vollem Bewusstsein der Verantwortung für die Zukunft mit all ihren Unwägbarkeiten. Dieser Verantwortung gerecht zu werden ist unmöglich, ohne die Bereitschaft unterschiedlicher Kulturen, einander mit gegenseitiger Achtung zu begegnen.
Alles, was lebt, verändert sich, einerseits aus sich selbst und andrerseits im Austausch mit anderen, das gilt für Individuen ebenso wie für Gesellschaften und daher auch für Kulturen, die sich erneuern müssen, um nicht unterzugehen. Es braucht die Begegnung, den Dialog, die Möglichkeit, sich der eigenen Werte zu versichern, indem sie anderen mitgeteilt, aber nicht übergestülpt werden, es braucht vor allem die Bereitschaft zuzuhören ohne vorschnell zu urteilen. Lebendiger Austausch kann auch in extrem gefährlichem Gelände gangbare Wege finden. Eine Leitfunktion für die eigene Kultur zu beanspruchen bedeutet automatisch, alle anderen Ansätze für minderwertig zu halten, womit „leiten“ Gefahr läuft, zu „ver-leiten“ und dabei in die Irre zu führen
Das bedeutet keineswegs eine Geringschätzung der eigenen Kultur, im Gegenteil, im Dialog werden die Konturen des eigenen Wertekanons strukturierter und klarer. Es bedeutet auch ganz sicher nicht auf klare Abgrenzung und Identität zu verzichten. Es geht immer wieder darum, die Möglichkeiten zu erkennen, die in der Vielfalt liegen, zumindest anzuerkennen, dass neben unseren völlig andere Antworten auf die drängenden Fragen möglich sind, und dabei Verletzungen so weit wie möglich zu vermeiden und Entwicklungen Raum zu bieten.
Kunst und Kultur können die Widersprüche nicht lösen, können nicht von Menschen geschaffenes Unheil verhindern, was sie aber können ist die Sehnsucht wachzuhalten nach Verhältnissen, in denen Menschenrechte selbstverständlich überall und für alle gelten. Indem wir uns Kunst und Kultur verpflichtet fühlen, dürfen, ja müssen wir uns selbst ermächtigen, als Anwalt der jeweils anderen aufzutreten.