In die Probewirklichkeit des Denkens liefert der Begriff „Leitkultur“, grob gesagt, das Bild einer Herde, die sich leiten lassen muss. Anders ausgedrückt: Die Bevölkerung müsste nach der Pfeife derer tanzen, die irgendetwas als verpflichtende ‚Leitkultur‘ definiert haben. Denn da gibt es Menschen, die leiten dürfen. Die anderen müssen folgen. Dadurch wäre eine autoritäre Struktur als Grundlage des Staates etabliert und gebilligt.
Von der Akzeptanz einer solchen Struktur ist der Weg zu einer autoritären politischen Führung fast schon selbstverständlich. Wenn es dann einen Volkskanzler gebe, der angeblich „für uns“ ist, dann ist es zu „Führ uns, Volkskanzler!“ auch nicht mehr weit. Das kann allerdings in Kenntnis der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nur der rechtsextremste Teil der Bevölkerung wollen.
Frau Bundesministerin Raab hat vor einiger Zeit im Zusammenhang mit der Diskussion um Leitkultur auch den Begriff einer „gemeinsamen Basis des Zusammenlebens“ verwendet. Das ist eine, für eine Demokratie hervorragend passende Vorstellung.
Was wird für unser Sprachverstehen auf unserer inneren Bühne ‚gebaut‘, wenn von einer gemeinsamen Basis des Zusammenlebens gesprochen wird? – Eben eine gemeinsame Basis. Also genau das, was ein Großteil der Menschen in unserem Land will. Denn das bedeutet Demokratie. Ob ich diejenigen, die mit mir auf dieser gemeinsamen Basis stehen, argwöhnisch, neutral oder liebevoll beäuge, das mag individuell sehr verschieden sein.
Und zugegeben, es ist kompliziert, diese gemeinsame Basis zu leben. Aber um sie zu definieren, braucht es keine besondere Anstrengung. Sie ist bereits mit unserer Verfassung und den geltenden Gesetzen vorgegeben. Falls nötig, könnten Gesetze ja nachgeschärft werden.
Das wird da und dort auch nötig sein. Beispielsweise bei den Gesetzen zur nationalsozialistischen Wiederbetätigung. Warum darf eine Burschenschaft in ihren Statuten eine Art Arier-Paragraph aufrechterhalten? Darf es erlaubt sein, dass sich Männer gegenseitig Verletzungen – „Schmisse“ – zufügen, ohne dass das als vorsätzliche Körperverletzung gerichtlich geahndet wird? Wenn der Text eines Liedes auf abscheuliche Weise den Tod von sechs Millionen jüdischen Menschen zum Anlass nimmt, hinzuzufügen, „Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebente Million“: Warum erlauben unsere Gesetze einem Mitglied jener Burschenschaft, die so etwas zu ihrem Liedgut zählt, eine hohe Position in einer Landesregierung einzunehmen? Gibt es dafür tatsächlich einen Konsens? – Ich hoffe, nein. Das steht weder auf einer gemeinsamen Basis noch hat es mit Kultur zu tun. Auch eine Rechtfertigung als Tradition oder Identität geht in so einem Fall nur mittels immenser Denk- und Sprachverwirrung.
Sprachverwirrung: Wenn Herbert Kickl in einer Rede einen hochgradig wirksamen Wortverdrehungsexzess vorführt und nach absurden Inhaltssetzungen plötzlich sagt, dass er die Bezeichnung rechtsextrem wie einen Orden trage, dann hat er eine meisterliche Perversion des Begriffs geleistet. Rechtsextrem klingt da nahezu wünschenswert – und bedeutet trotzdem den Willen, die demokratische Grundordnung des Staates zu vernichten, um autokratisch regieren zu können. Dass muss klar bleiben.
Als Himmler 1933 das Propagandaministerium eröffnete, erklärte er, dessen Zweck sei die mentale Kriegsvorbereitung der Bevölkerung. Dazu gehört es, die Sprache so zu behandeln, dass die Menschen entmündigt sind, weil nichts mehr das bedeutet, was durch Sprachgebrauch vereinbart und festgelegt ist. Es gilt nur mehr, was die Obrigkeit damit bezweckt. Emotionen können dann beliebig zugeordnet werden. Es wird nur mehr Schulterschluss und Gleichschritt verlangt.
Wenn die Worte nicht mehr das bedeuten, was sie sagen, sondern nur signalisieren, was die Autorität will, dann sind die Bürger^innen entmündigt. Dann ist die Sprache als Verständigungs- und Diskussionsmittel abgeschafft, sie ist abgeschafft als Instrument des Denkens und politischen Eingreifens. All das ist extrem anti-demokratisch und anti-egalitär, steht aber im Aktionsradius und Echoraum zum Begriff Leitkultur.
Eine demokratisch entwickelte, gemeinsame Basis des Zusammenlebens ist als Mittel für ein gerechtes, klar organisierbares Staatsgebilde eindeutig zweckdienlicher.