Vor nicht allzu langer Zeit platzte die Nachricht in alle Medien, der deutsche Ravensburger-Verlag hätte Karl Mays Winnetou-Bücher aus dem Handel genommen, weil diese Geschichten „rassistisch“ und „diskriminierend“ wären. Im Internet fand ich sogar einen Kommentar, in dem beklagt wurde, was Karl May mit seinen Büchern der indigenen Bevölkerung Amerikas „angetan“ hätte.
Die Angelegenheit sorgte für viel Kopfschütteln. In meiner Jugend war Karl May eigentlich derjenige, der die im 19. Jahrhundert übliche Vorstellung des „blutrünstigen Indianers“ grundlegend korrigiert und ins Positive verschoben hat. Dennoch können nach heutiger Lesart gewisse „kolonialistische“ Züge ausgemacht werden; meines Erachtens allerdings eher in den Orient-Romanen als in den amerikanischen.
Die Diskussion über „kulturelle Aneignung“ ist keineswegs einfach zu führen. Im Grunde geht es dabei um eine Übernahme kultureller Merkmale anderer und vor allem historisch oder faktisch diskriminierter Volksgruppen; und zwar aus einer Haltung heraus, die sich als überlegen oder dominant versteht. Die Übernahme dieser Merkmale – das kann Kleidung sein, ein spezieller Haarschnitt, aber natürlich auch kulturelle und künstlerische Besonderheiten oder sogar Kulinarisches – ist in diesem Zusammenhang also möglicherweise herablassend oder verächtlich gemeint und versucht die betroffene Volksgruppe zumindest ins Lächerliche zu ziehen.
Doch selbstverständlich kann eine kulturelle Übernahme respektvoll gemeint sein, bewundernd und das Eigene bereichernd. Die Kultur aller Menschen und aller Völker entwickelte sich erheblich über Kulturkontakte, bei denen solche Übernahmen, also „kulturelle Aneignungen“ stattfanden. Manchmal tatsächlich in Form von gewaltsamen Unterwerfungen, viel öfter jedoch durch Kultur- und Handelskontakte.
Als überaus problematisch erachte ich die Verwendung, wenn es darum geht, Menschen pauschal zu verunglimpfen und anzuklagen, weil sie irgendetwas ausleben, was ursprünglich aus einer anderen Kultur kommt. Es kann doch keine Rede von Diskriminierung oder Verächtlichmachen sein, wenn wir Pizza (Italien) essen, die Musikband der Tochter Reggae (Jamaika) spielt, der Wirt um die Ecke Maiskörner (Maya) in den Salat mischt, ich ein Blatt Papier (China) beschreibe, der Sohn sich zum Faschingsfest im Kindergarten als Sioux-Häuptling (Dakota) verkleidet oder der arabische Investor eines Unternehmens in Anzug und Krawatte (europäische Tradition) zum Meeting erscheint. Wer die „kulturelle Aneignung“ als unreflektierte Waffe gegen andere einsetzt, könnte theoretisch alle anklagen, die eine Fremdsprache lernen! Und wer eine Fremdsprache lernt, interessiert sich auch für die zugrunde liegende Kultur und nimmt womöglich gerne etwas daraus an.
Eine Auflistung dieser Art ließe sich endlos fortführen. Ähnlich problematisch scheint mir, wenn Schriften, die in vergangenen Zeiten entstanden sind, nach Formulierungen durchsucht werden, die aus heutiger Sicht als diskriminierend oder rassistisch gelten. Diese Texte werden mit dieser Begründung umgeschrieben oder aus dem Verkehr gezogen – auf diese Weise können künstlerische Werke und nicht zuletzt Künstler*innen der gesamten Kulturgeschichte verunglimpft und deren Beitrag aus der Kulturgeschichte gelöscht werden.
Eine ehrliche Auseinandersetzung mit „kultureller Aneignung“ kann und soll das Bewusstsein schaffen, dass eine Übernahme fremder Gebräuche oder kultureller Merkmale keineswegs in herablassender oder diskriminierender Weise erfolgen soll, sondern stets im Sinne einer aufrichtigen Anerkennung. Der freie und positive Austausch kultureller Errungenschaften zwischen allen Völkern und Volksgruppen darf jedenfalls nicht beschädigt werden oder gar zu einem Erliegen kommen, weil es genau dieser Austausch ist, der so gut wie jede Kultur ausmacht.