Als kleines Gedankenexperiment bietet sich die Überlegung an, ob das Wort von den demokratiefeindlichen Begriffennicht selbst ein demokratiefeindlicher Begriff ist. Offenbar geht es darum, alles Ekelhafte, Widerwärtige, Asoziale, Bösartige oder sonstwie nicht Wünschenswerte aus dem edlen und reinen Bezirk des Demokratischen zu verbannen. Edel sei das Demokratische, hilfreich und gut. Das ist nobel gedacht, es entspricht nur leider nicht dem Gedanken der Demokratie. Der erschöpft sich darin, das Wünschen und Wollen der Mehrheit zur Tat werden zu lassen, und dies ganz unabhängig von seiner moralischen oder sittlichen Qualität.
Eine solche Unwort-Liste wird in der offenkundigen Absicht erstellt, eine ganze Reihe von Fragen, die einer großen Anzahl von Stimmbürgern – und in manchen Fällen wahrscheinlich sogar einer Mehrheit – dringlich erscheinen, nicht nur der demokratischen Abstimmung zu entziehen, sondern sogar ihre öffentliche Debatte als demokratiefeindlich zu brandmarken und sie auf diese Weise zu unterdrücken. Dafür mag es eine Reihe von guten Gründen geben, von denen allerdings keiner mit den Prinzipien der Demokratie gerechtfertigt oder auch nur gut in Einklang gebracht werden kann.
Das Problem, das eine solche Liste wirklich reflektiert, ist nicht das der Demokratiefeindlichkeit. Es ist ganz im Gegenteil das Problem des Einsatzes demokratischer Mittel zum Zweck der Durchsetzung menschenfeindlicher, asozialer, hetzerischer, rassistischer, amoralischer, antieuropäischer , nationalistischer, sexistischer und anderweitig widriger Konzepte. Die Qualifizierung der wachsenden Zustimmung zu solchen Haltungen als Ausdruck von Demokratiefeindlichkeit ist aber nicht nur krass simplifizierend, sie ist einfach falsch. Es ist nämlich ein beklagenswert großer Teil des Wahlvolks, der solche Konzepte verwirklicht sehen möchte und diesem Wunsch im – so weit das Adjektiv der Steigerung zugänglich ist – demokratischsten aller denkbaren Akte, nämlich durch sein Stimmverhalten an der Wahlurne Ausdruck verleiht.
Der Versuch, das moralisch illegitime, aber gleichzeitig durchaus legale Wünschen und Wollen einer in mehreren Ländern der Europäischen Union wenigstens relativen Mehrheit als undemokratisch abzuqualifizieren verschärft das Problem durch seine Verleugnung, weil diese schon die bloße Auseinandersetzung mit seinen Ursachen und seinen Inhalten unmöglich macht: Was als demokratiefeindlich erkannt und verurteilt ist, ist ipso facto verworfen und kann und darf nach dem ergangenen Verdikt gar nicht mehr Gegenstand der politischen Auseinandersetzung sein, die aber dringend nottut, wenn es darum geht, dem Zustandekommen demokratischer Mehrheiten für autoritäre, nationalistische und faschistische Gesellschaftsmodelle wirksam entgegenzutreten.
Es ist vielleicht überzogen, die Brandmarkung dieser widrigen demokratischen Willensäußerungen als ihrerseits selbst demokratiefeindlich zu qualifizieren. Eine gerütteltes Maß an Skepsis gegen das ungebremste Walten des demokratischen Mehrheitsprinzips wird man an ihr aber allemal konstatieren müssen. Die ist nicht unbegründet, weil wir gerade wieder einmal erleben, dass die Demokratie nicht notwendiger Weise das leistet, was wir von ihr erwarten: Die Herstellung eines humanen, respektvollen, achtsamen, solidarischen und wertebasierten Miteinanders. Diese Erwartung ist leider verfehlt, weil auch demokratische Verfassungen einen so wünschenswerten Zustand nicht zwingend zur unausweichlichen Folge haben. Den bringen sie nur dann hervor, wenn ihre Träger, die stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger, über die unverzichtbare Voraussetzung für die segensreiche Ausübung ihres demokratischen Stimmrechts verfügen, nämlich über jene Bildung, deren Wert im Zug der neoliberalen Barbarisierung der Welt in Abrede gestellt worden ist, und die zugunsten der Ausbildung, das bedeutet: der Zurichtung des Menschen für sein klagloses Funktionieren im kapitalistischen Wirtschaftssystem, weitestgehend verdrängt, wenn nicht vollkommen ersetzt worden ist.
Die Fahndung nach demokratiefeindlichen Begriffen und Haltungen, und das Bemühen um die Verbannung einer großen Zahl von brennenden Anliegen eines sehr beträchtlichen Teils der wahlberechtigten Bürgerinnen aus dem politischen Diskurs, kann für sich selbst schwerlich eine besonders gute Haltungsnote in Sachen Demokratie in Anspruch nehmen. Vor allem aber wird das Unterfangen sein Ziel nicht erreichen: Die politische Auseinandersetzung mit den Wünschen einer wenigstens relativen Mehrheit der Wähler kann sich mit diesem Kunstgriff zwar verweigern, aber nicht mit Erfolg schwänzen lassen.