Was ist das? Wer soll das sein? Selbsternannte Eliten. Meldet sich jemand und sagt: Da gehöre ich dazu – sozusagen selbsternannt?
„Elite“ war meistens ein Kampfbegriff. Im Brockhaus von 1819 (Conversations-Lexicon in zehn Bänden) kommt „Elite“ noch nicht vor. Erst mit dem fortschreitenden Aufstieg des Bürgertums im 19. Jahrhundert und seiner zunächst vor allem wirtschaftlichen Ablösung des Adels gewinnt „Elite“ in der bürgerlichen Welt an Bedeutung – auch als Kampfbegriff gegen die absteigende, aber politisch und militärisch immer noch dominierende Aristokratie: Elite, das sind Menschen, die sich nicht durch besondere Herkunft, sondern durch besonderes Wissen oder Können hervortun. Noch im dtv-Lexikon 1971 heißt es: „Minderheit höchsten Werts oder höchster Leistung“ – was auch immer mit „höchstem Wert“ gemeint sein mag.
Zu der Zeit hatte „Elite“ allerdings bereits einen üblen Geruch. Der kam mit der Kulturrevolution der späten 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, die dem Prinzip der Gleichheit besonderes Gewicht beigemessen hat. Und „Elite“, bis dahin verehrt und bewundert, kam deswegen in den terminologischen Schmutzkübel, ganz zuunterst. Natürlich könnte man, wenn man unbedingt will, Studentenführer von damals, Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit und die jungen Männer rund um sie (Frauen waren selten) historisch betrachtet dennoch als „Elite“ der Bewegung bezeichnen. Aber die hätten das – jedenfalls den Begriff – entschieden abgelehnt.
Ein Klassiker zum Thema „Elite“ im deutschsprachigen Raum in jener Zeit erschien 1973: „Ihr da oben – wir da untern“ von Bernt Engelmann und Günter Wallraff. Die „da oben“, das sind in dem Fall Namen der großen Industrie, auch einige Adelige sind dabei, sofern sie wichtige Unternehmer waren. Gegen die geht es im Klassenkampf um Gerechtigkeit und Mitsprache.
Das alles hat sich später im Zeichen von Political Correctness und Woke radikal geändert – katastrophal geändert. Wie Macht und Reichtum die Welt gestalten, wie ökonomische Interessen einzelner ökologische Katastrophen für viele bewirken, das ist jetzt nicht mehr so wichtig. Jetzt geht es ums Gendern, um die dritte Clotür, um Winnetou, der kein „Indianer“ mehr sein darf, um den „Mohr im Hemd“ und um noch unaussprechlichere Wörter. Und viele, denen es um den Kampf gegen die Gier, gegen den Übermut der Mächtigen gegangen ist, um soziale Gerechtigkeit, die haben sich abgewandt, weil sie diesen neuen Streit nicht verstehen konnten und wollten. Und so kam, dass es denen „oben“ gelungen ist, einen – allerdings nicht unwichtigen – Nebenschauplatz zum eigentlichen Schlachtfeld zu machen.
Und da toben sich beide Seiten nun aus in einem Krieg der Worte – eine perfekte Ablenkung zum Nutzen der wirklich Mächtigen. Und ihre Parteien spielen mit. In Österreich die ÖVP bemüht sich eher kümmerlich mit ihrer „Leitkultur“, die FPÖ hingegen kommt hoch zu Ross – ein zugegeben blödes Bild, doch für Kickl passt es. Hier sind sie in ihrem Element. Das ist ihre Blutwiese.
Und wer sind jetzt diese sogenannten „selbsternannten Eliten“, die angeblich so abscheulich sind, weil sie angeblich dem „Volk“ so schaden? Wir gehen vermutlich nicht fehl, wenn wir uns jetzt dem Kulturbereich zuwenden. Im vergangenen Sommer erklärte Parteichef Kickl, würde er die Salzburger Festspiele besuchen, wäre seinen Anhängern „das Gesicht eingeschlafen, wenn ich dort aufgetaucht wäre.“ Daher: „Da will ich gar nicht dabei sein bei diesen Heuchlern, bei dieser Inzuchtpartie.“
Da dies eine dumme Äußerung ist und da die allgemeine Kritik heftig war, ruderte die Partei zurück: Gemeint seien nicht die Festspiele und ihre Besucher gewesen, sondern anwesende Politiker. Nur: Kickl hat etwas Anderes gesagt. Daher das allgemeine Erstaunen, dass er auch auf ein Fest der Hochkultur derart losgeht.
Was aber stimmt: Wer Kunst ohnehin nicht mag, für den wird sie umso abstoßender, je zeitgenössischer sie ist, je komplexer ihre Formensprache, je schwerer sie zu deuten ist. Kurzum: „die moderne Kunst“. Das vertraute reaktionäre Schlagwort ist seit 100 Jahren quicklebendig und reaktionäre Parteien machen damit erfolgreich Politik. Und wer vorgibt, diese Kunst zu verstehen, gibt damit zu, dass er oder sie Teil dieser verhassten Elite ist.
Am Beispiel Kultur lässt sich der Hass gegen sogenannte „selbsternannte Eliten“ am deutlichsten festmachen. Als Ablenkung. Denn wovon dann nicht ständig die Rede ist, das sind zentrale Fragen für alle: der fortschreitende soziale Abstieg eines Teils der Bevölkerung und die fortschreitende obszöne Anhäufung von immer mehr Reichtum am oberen Ende der Skala. Die wiederholt getroffene Feststellung, die soziale Schere gleiche mittlerweile der in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, gilt mehr denn je. Das ist grotesk und unerträglich, aber das Unerträgliche wird offensichtlich von einer Mehrheit schweigend hingenommen.
Denn die Frage von Reich und Arm, die soziale Frage insgesamt, interessiert zurzeit viele wenig. Daher in Österreich zum Beispiel kann die FPÖ als die selbsternannte „Partei der kleinen Leute“ ganz offen gegen Vermögens- und Erbschaftssteuer kämpfen, obwohl auch führende Organisationen des westlichen Kapitalismus diese Steuern mittlerweile unmissverständlich einfordern, damit die Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderfällt. Weil das die Demokratie nicht aushält.
Aber genau darum geht es offenbar. Dieser neue Klassenkampf von oben, den auch die FPÖ führt, hat kein Interesse an liberaler Demokratie und sozialer Wohlfahrt, wie sie in Westeuropa nach 1945 allmählich und oft auch in heftigem Streit durchgesetzt wurde. Das Ziel der Feinde ist, diese Demokratie mit der Behauptung, sie sei den Herausforderungen von morgen nicht gewachsen, als Modell von gestern zu zerschlagen.
Dazu braucht es geeignete neue Feindbilder und dazu gehören in Österreich die von der FPÖ erfundenen „selbsternannten Eliten“. Als Vorwand dafür dienen von der Bevölkerung überwiegend abgelehnte Begriffe (und Inhalte) wie Woke und Political Correctness, die dieser „Elite“ zugeschrieben werden. Dagegen allgemeinen Hass zu schüren und so davon abzulenken, welche Gefahren Demokratie und Wohlfahrtsstaat heute tatsächlich drohen, das ist Parteien wie der FPÖ gelungen. Damit betrügt sie ihr „Volk“.
Alles in allem: Selbsternannte Eliten gibt es nicht. Aber als Feindbild eignen sie sich hervorragend.