Herbert Kickl entwertet Gegnerinnen und Gegner und missliebige Gruppen gerne auf der biologischen Ebene, manchmal auch sexualisiert. Das Neueste ist die Bezeichnung der Gäste der Salzburger Festspiele als „Inzuchtpartie“. Er hat schon früher reihenweise Mitbewerberinnen und Mitbewerber wegen ihrer körperlichen Mängel verspottet. Warum funktioniert das so gut?
Wir alle haben gelegentlich oder auch dauerhaft Angst, dass mit unserem Körper etwas nicht stimmt: zu dick, zu klein, zu unproportioniert, mit Problemen der Haut, der Gesichtsfarbe, zu wenig männlich, zu wenig weiblich, krankheitsanfällig. Von diesen Ängsten leben ganze Wirtschaftszweige, und wir wenden viel Energie auf, die körperlichen Unzulänglichkeiten zu überdecken und zu kompensieren. Es wird dann als temporäre Entlastung erfahren, wenn von einem Volksredner die Mängel bei anderen Personen hervorgehoben und unter Beifall verspottet werden. Beim Applaus und danach dürfen sich die Menschen im Publikum für kurze Zeit als normal und perfekt fühlen: der Redner als Therapeut für unseren Umgang mit körperbezogener Angst.
Auch für den Umgang mit einer anderen Art von Angst ist Kickl ein Experte. Er mobilisiert den menschlichen Neid, der aber – was den eigenen Neid angeht – so nicht benannt werden darf, weil Neid in der christlichen Tradition eine Todsünde ist. Er kommt stattdessen unter der Flagge der Herstellung von Gerechtigkeit dahergesegelt. Der Neid lässt Fantasien über verbotene Früchte und Wohlstand bei anderen entstehen, die uns vorenthalten werden. Nutznießer des Vorenthaltenen wären „faule Flüchtlinge“ und „selbstsüchtige Eliten“.
Im Juli diskutierte man in Österreich über eine neunköpfige syrische Familie mit zwei Erwachsenen und sieben Kindern, die Asyl bekommen hatte und aufgrund der Wiener Sozialhilfegesetze insgesamt 4600 Euro im Monat erhält. Allein von der hohen Summe zu hören löste offenbar schon Neid und Empörung aus. Ein gefundenes Fressen für die FPÖ. Kommentar von Kickl: „Es kann nicht sein, dass Menschen in unser Land kommen, noch nichts beigetragen haben und üppig mit dem hart erarbeiteten Steuergeld alimentiert werden, während sich zum Beispiel unsere Senioren bei Sozialmärkten anstellen müssen. Das ist eine Schande.“
Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Neun Senioren im Sozialmarkt erhalten zusammengezählt pro Monat sehr viel mehr als eine neunköpfige Familie mit Sozialhilfeanspruch. Für eine Empörung über eine Zurücksetzung der Österreicherinnen und Österreicher besteht kein Anlass. Man kann über die speziellen Berechnungsgrundlagen der Wiener Sozialhilfe diskutieren, die für jedes Kind gleich viel Sozialhilfe zahlt. Das hat aber überhaupt nichts mit dem Ausländer- oder Inländerstatus der Bezieherinnen und Bezieher zu tun. Die Streichung der Sozialhilfe für Geflüchtete würde auch nicht ansatzweise die Gegenfinanzierung der von Kickl versprochenen Steuererleichterungen für Inländerinnen und Inländer ermöglichen. Der Wunsch nach Umverteilung zugunsten der einheimischen Bevölkerung kann seltsame Blüten treiben. Die AfD hat in Deutschland bereits plakatiert: „Schnellere Remigration schafft Wohnraum“.
Laut Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, haben wir Menschen drei große Ängste, mit denen wir umgehen müssen. Die erste ist die lebenserhaltende und möglichst faktenbasierte Realangst (vor Krankheit, Gebrechen, einem tödlichen Unfall). Die zweite ist die neurotische Angst, die Angst vor uns selbst, vor den eigenen inneren Regungen und monströsen Kreaturen in uns selbst, welche wir gerne auch auf äußere Figuren und Verfolger projizieren und dort bekämpfen. Freud würde Inzestfantasien dazurechnen.
Die neurotische Angst geht über in die neurotisch-paranoide Angst, die Angst vor Hirngespinsten, vor Teufeln, Hexen und bösartigen Gestalten. Harald Vilimsky, Kickls Mann in der EU, hat die drei Frauen, die in Europa hohe Positionen errungen haben, als „Hexentrio“ und „Gruselkabinett“, bezeichnet, das die Peitsche verdiene. Als dritte Angst nennt Freud noch die etwas brüchige Errungenschaft der Gewissensangst, die sich nicht bei allen Menschen findet und die leicht in dummem Gelächter und Alkohol ertränkt werden kann.
Kickl schafft es, verschiedene Ängste der Menschen mit einer Art Angststaubsauger einzusammeln. Im Staubsauger entsteht eine toxische Mischung aus Realängsten, neurotisch-paranoider Angst und Wut, die auf Explosion drängt. Die Gewissensangst wird von diesem Staubsauger eher an den Rand oder unter den Teppich geschoben. Der Angststaubsauger ist mit einer Dreckschleuder verbunden, mit der man auf bestimmte Personen und Gruppen zielen kann, die angeblich für die Entstehung der Angst verantwortlich sind. Die Entstehung der meisten Ängste ist in Wirklichkeit komplex und hat oft überpersönliche Ursachen.
Im EU-Wahlkampf setzte die FPÖ ein düsteres Plakat ein, auf dem Ursula von der Leyen und Wolodymyr Selenskyj sich wie ein böses Paar küssen und in Bild und Schrift suggeriert wird, dass die EU-Kommissionspräsidentin und der ukrainische Präsident für Asylkrise, Kriegstreiberei, Ökokommunismus und Corona-Chaos verantwortlich sind. (Russlands Präsident Wladimir Putin wurde verschont.) Mit dem Ankreuzen der FPÖ könne man diesen „EU-Wahnsinn“ stoppen. Beim Einsatz der Dreckschleuder werden als Ursachen immer konkrete Schuldige und Personen anvisiert, die entmachtet, bestraft oder außer Landes geschafft werden müssen (Eliten, Globalisten, Flüchtlinge). Ihr Verschwinden wäre dann die „Erlösung“, von der Kickl spricht.
Der Erlöser, der selbst keine Angst hat und sich gerne unverletzlich gibt („Ich bin gut im Saft“), rettet die Menschen aus einer finsteren Welt, in der Feinde und niedere Kreaturen regieren. Auf einem aktuellen Wahlplakat mit Kickls Bild heißt es: „Der Einzige auf eurer Seite“. Wenn Kickl selbst und eine größere Zahl von Anhängerinnen und Anhängern dies wirklich glauben würden, müsste man als Psychologe eine akute Warnung wegen Gefährdung der Volksgesundheit abgeben: Extrem-Narzissmus auf der Basis von paranoiden Fantasien.
Erstveröffentlicht in Der Standard, Gastkommentar „Die psychologische Trickkiste des Herbert Kickl“, 1.9.2024