In der Nacht nach der österreichischen Nationalratswahl im September 2024 träumte ich, obwohl ich ganz und gar nicht zu Alpträumen neige, von Riesenschlangen, die das Wasser im Flussbett unter mir, sich vermehrend und wachsend, verdrängten. Ich wachte auf, dachte: „Wenn sich so viele Menschen von Herbert Kickl Richtung Orbanistan führen lassen wollen, dann fahr ich schon mal hin, um einen Blick zurück in die Zukunft zu werfen“ und stieg kurzentschlossen in den Zug nach Budapest.
Mein Sohn war gerade aus China zurückgekommen und seine Erzählungen deckten sich mit meinen Wahrnehmungen in Ungarn. Man sieht die illiberale Demokratie nicht. Man hört die Diktatur nicht. Nun, irgendwo, irgendwann und irgendwer schon, aber da ist es längst zu spät.
Was in Ungarn sofort ins Auge fiel, war die Kluft zwischen Arm und Reich. Äpfel und in Plastikfolien geschützte Öffi-Tickets auf Hausvorsprüngen, die von aufmerksamen Menschen hinterlegt wurden, um die größte Not zu lindern, der Sack im offenen Mistkübel höflich aufgerissen, damit die Entnahme des Brotes hygienisch erfolgen konnte.
Die blitzsaubere Einkaufsmeile, deren Geschäfte bis spät in den Abend offen hatten, obwohl kaum jemand da war, um einzukaufen. Wie denn auch, bei einem durchschnittlichen Bruttolohn von 1.500€ und fast-österreichischen Preisen? Die Straßen zwischen den klassizistischen und jugendstilumrankten Häuserfassaden der schönen Schwester von Wien seltsam menschenleer.
Natürlich sind Armut und Reichtum nicht illiberalen Demokratien vorbehalten. Wenngleich diese Armut und Reichtum genauso begünstigen, wie die Bewältigung der Finanzkrise 2008 den globalen Rechtsruck. Das Praktische an illiberalen Demokratien: weder NGO-Wahnsinn (O-Ton Sebastian Kurz) noch eine pluralistische Presse (wie in Deutschland) können die Ruhe der Demagogen stören.
Falls man die illiberale Demokratie hören kann, fehlte es mir in Ungarn an den notwendigen Sprachkenntnissen. Aber nicht an Fantasie. Der österreichische Nationalratswahlkampf war von geschwätziger Leichtigkeit gewesen, beinahe so versöhnlich plätschernd wie die TV-Debatte zwischen Walz und Vance. Das wohlklingende Beschwören der politischen Mitte war zu Ungunsten der SPÖ ausgefallen. Nicht, weil diese etwa linksradikal geworden wäre, die Mitte hatte sich seit 1986, 2000, 2008, 2015, 2017, 2019 nur konsequent nach rechts verschoben. Und mit ihr die Medien, Seh- und Hörgewohnheiten.
Während ich am Hügel von Buda auf das ungarische Parlament in Pest hinunterblickte, schön gelegen an der sich in weitem Bogen schlängelnden Donau, spielte ein Roma „Bella Ciao“. Die Menschen atmeten und flirteten, warteten auf ihre Pommes und wirkten unbedarft in ihrer Alltagstrance wie überall auf der Welt. Großväter begrüßten ihre Enkelkinder, diese liefen Tauben nach. Beziehen autokratische Systeme heute ihre Kraft aus der Unsichtbarkeit? Die DDR hatte immerhin noch ihre Mauer.
Natürlich konnte ich es nicht lassen und fragte alle, die mir nahekamen, nach ihren politischen Befindlichkeiten. Scheinbar hatte hier niemand Interesse oder Meinung. Ist die illiberale Demokratie in diesem Schweigen hörbar?
Christa Wolf schreibt in ihrem Stück Weltliteratur Kassandra: „Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen, in Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.“
Wann beginnt das Rutschen der Demokratie. Falls es da Regeln gäbe, man müsste sie weitersagen. In Echokammern ritzen. Damit das Gesagte in der Kakophonie nicht untergeht und weil ein Bild mehr sagt als 1.000 Worte, müsste man das Rutschen zusätzlich sichtbar machen. Ganz schlicht, damit es auch Idioten begreifen (Wikipedia: „ἰδιώτης idiotes, Personen, die sich aus öffentlichen-politischen Angelegenheiten heraushielten und keine Ämter wahrnahmen, auch wenn ihnen dies möglich war“) und die in erstarrten Schulstrukturen nicht lernten, Diskurs von Propaganda zu unterscheiden.
Wir brauchen eine Demokratiewaage. In jedem Land. Weltweit. Eine altmodische Waage mit zwei Schalen. Gerne in digitaler Form. Was wären die Gewichte, die man benennen, eichen und in die eine Waagschale legen könnte? Ganz sicher die Lüge, die Hetze, das verharmlosende Framing, das Opfer spielen, die Ungerechtigkeit, die Korruption, das schwache Parlament, die abhängige Justiz, die gekauften Medien, die dysfunktionalen Behörden, die kaputtgesparte Infrastruktur, die Politik am Gängelband der Wirtschaft und die Verletzung der Menschenrechte. Teile und herrsche.
In die andere Waagschale käme das Faktenwissen, die Empathie, der Opferschutz, die soziale Gerechtigkeit, das selbstbewusste Parlament, die unabhängige Justiz, die Medienvielfalt, das transparente Bürgerservice, die intakte Infrastruktur, die Politisierung der Politik und die Achtung der Menschenrechte. We shall overcome.
Über den aktuellen Stand der Demokratiewaage wird täglich berichtet. Das öffentliche Wort und die daraus folgenden Handlungen haben Gewicht. Die Demokratiewaage macht dieses unmittelbar sichtbar. So pragmatisch wie der tägliche Wetterbericht. Will ja niemand aus dem Haus gehen und plötzlich nass werden, oder?
Wer verhindert, dass die Illiberalen aus dem hölzernen Pferd steigen? Wer stellt die täglichen Berechnungen an? Wer benennt die einzelnen Gewichte, die jeden Tag in die Schalen gelegt werden? Nun, wir haben die Erfahrung einer ganzen Menschheit. Wir haben KI. Und wir haben unabhängige Medien, die über den aktuellen Stand der Demokratiewaage so selbstverständlich berichten werden, wie über das Wetter, oder?