I.
Der „Hausverstand“, von dem hier die Rede sein wird, ist ein robust erscheinender, sich auf die Alternativlosigkeit seiner Auffassungen berufender Typ.2 Keinesfalls interessiert er sich dafür, gesellschaftliche Zusammenhänge mitsamt bestimmter Betrachtungen derselben tatsächlich zu analysieren. Er macht es sich auf seinem seines Erachtens angestammten oder rechtmäßig in Besitz genommenen Platz gemütlich und kennt sich – das spürt er, und basta! – ohnehin von A bis Z aus. Mit „rationalen Reflexionen“ versteht er sich nicht besonders.
Man muss in jedem Fall, das heißt in jedem Augenblick,
in jedem Land und zu jedem Problem sich fragen,
wie die Struktur des Raumes beschaffen ist.“ 1
„Einwände“ oder „Nachfragen“ lässt er selten an seinen Tisch. Jegliche „umsichtige, verantwortungsvolle Wissensproduktions- oder Beschreibungs- und Problemzergliederungsbestrebungen“, die sich ihm nähern, scheucht er am liebsten aus der Stube. Die nerven ihn mit ihrer „Pedanterie“ nämlich bis aufs Blut. Und kommt der „Zweifel“ herein und gibt nicht gleich nach, sondern klopft jedes Gehabe beharrlich nach Gründen, Anlässen und Zwecken ab, winkt der „Hausverstand“ entweder ab oder geht – die „Gegenargumente“ oder „Verweise“ auf „die wirklichen Verhältnisse“, „als gesichert geltende Erkenntnisse“ oder „eine Menge an Perspektiven“ keines Blickes würdigend – in die Offensive. Etwas wie „empirische Studien“ oder „vernunftbasierte Schritt-für-Schritt-Begründungen“ braucht er nicht. Wie instinktiv scheint er zu wissen, wann zu nicken, wann der Kopf zu schütteln ist 3. Zwar erklärt er nichts wirklich, wirkt aber, als hätte er die Wahrheit gepachtet 4 beziehungsweise den Sinn dafür, was wie zu denken und zu tun oder zu unterlassen sich schicke. Und wovon er glaubt, dass es zu meinen, zu sagen, zu machen angebracht sei, entspricht – welch Zufall – den Regeln als Regelmäßigkeiten sozialer Strukturen.5
II
Diese vermeintlich selbstverständlich so und nicht anders beschaffenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse erweisen sich insofern als langfristig beziehungsweise kontinuierlich wirkmächtig, als und weil ihre vor allem auch fernab der reflexiven Benennung dessen, was wie und wo genau wann läuft beziehungsweise nach welchen Kriterien sich sozioökonomische, gesellschaftliche Ordnungen jeweils realisieren, jenseits des bewussten Bereiches der sprachlichen Sphäre funktionierenden, in der „Zeitnot“ des „Alltags“, seiner „Logik der Praxis“ 6 geradezu notwendig von sogenannten blinden Flecken geprägten „Rechtfertigungsmuster“ den einzelnen Akteurinnen und Akteuren einverleibt respektive zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit, zum „Gegebenen“ geworden sind 7.
Aufgrund des nicht bloß kognitiven, sondern körperlich-emotionalen „Ge- und Verwachsenseins“ des Individuums mit der allgemeinen Praxis erlebt es das „Willkürliche“ derselben, das „unter speziellen Konditionen Konstituierte“ als „Natürliches“ 8.
Auch heutige soziale Gefüge demokratischer Ausrichtung reproduzieren sich mittels der scheinbar sanften Durchsetzung gewisser Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs-, Beurteilungsmuster beziehungsweise durch das beständige, bildungsinstitutionell geförderte Einüben von Umgangs- als Erlebens- und Verhaltens-, Aktions- und Reaktionsschemata. Indem die bestehende Ordnung von jenen, die von deren Wirklichkeit so beherrscht werden, dass ihnen im Vergleich zu Privilegierteren nicht dieselben Möglichkeiten zuteil werden – und die Wahrscheinlichkeit, ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital zu erlangen, bleibt im Österreich des Jahres 2025 höchst ungleich verteilt und von der sozialen Herkunft abhängig – , als selbstverständlich akzeptiert wird, stärkt und sichert sich ihre Wirkmacht.
III
Wozu (miss-)versteht wessen Hausverstand was, wo, wann? Die Frage, warum – d.h.: in Bezug worauf, mit welchem Hintergrund, welcher Vorstellung – jemand mit dem „Hausverstand“ aufzutrumpfen versucht, spielt keine geringe Rolle. Nun ist es das Eine, im Alltag – sozusagen – das, was sich einer/-m zeigt oder nicht zeigt, als „taken for granted“ aufzufassen, diese „Sicht auf den Lauf der Dinge“ „einfach zu leben“, quasi die „Logik der Praxis“ entlang. 9 Etwas Anderes wiederum bedeutet der Akt der Propagierung oder gar Legitimierung einer Anschauung in einem nie nicht interessegeleiteten, andauernd Überzeugungen oder Stand- wie Gesichtspunkte verhandelnden öffentlichen Raum, der unter anderem zwar diffusen, doch rigorosen Aufmerksamkeitsökonomieregeln 10 gehorcht oder vielmehr durch sie geprägt wird.
An den – imaginären – Tischen, dort, wo über die Bedeutungen und Bewertungen dessen, was ist und sein soll, über Belange von „Oikos und Polis“ konferiert, geschrieben oder entschieden wird, bekommt ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerung keinen Platz. In der über die Welt befindenden Welt als „Erscheinungsraum“ 11 findet keinerlei gleichberechtigte Partizipation potentieller Partizipierender statt.
Geht es – zum Beispiel – um eine sich des „Hausverstands“ bedienende Äußerung konservativer Provenienz, die das Ziel verfolgt, dem Interesse einer Gruppe zum Erfolg zu verhelfen und dabei Vorstellungen, Wünsche oder Urteile ins Spiel bringt oder verteidigt, deren schwächelndes oder fehlendes Argument mit dem Verweis darauf gestärkt werden soll, dass die „Normalen“ genauso fühlen, denken und hoffen würden, präsentiert sich das Perfide gerade darin, dass seitens eines privilegierten politischen Akteurs mit seinem (ganz und gar nicht egalitären) Weltbild auf das behauptete von Leuten verwiesen wird, die im öffentlich Bedeutungen verhandelnden „Erscheinungsraum“ mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht selber „erscheinen“ 12. „Die schweigende Mehrheit“ 13, zu deren angeblichen Fürsprechenden sich derartige Anhängerinnen und Anhänger des „Hausverstands“ aufschwingen, um die Richtigkeit ihrer als bodenständig daherkommenden Botschaften zu untermauern, verfügt ihrerseits nicht über dieselben Chancen respektive Reichweiten. Jenen „Normalen“, deren „Normalität“ da gepriesen wird, fehlt – nicht zuletzt aufgrund einer soziale Ungleichheiten stabilisierenden sowie verstärkenden Politik – nicht selten die öffentliche Benennungsmacht, also das nötige „soziale und symbolische Kapital“ (als „Verfügungsmacht im Rahmen eines Feldes“ 14), um ihre Bewertung dessen, was passiert oder nicht passiert, als legitime Komponente des Alltagsverstandes einzubringen geschweige denn ihr Geltung zu verschaffen.15
IV
Dieser explizit legitimierende „Hausverstand“ zeigt einen heftigen Rechtsdrall. Insbesondere unter den Rechten respektive in der Sphäre der ideell konservativ, wirtschaftlich liberal Bürgerlichen erfreut sich der Begriff enormer Beliebtheit 16. Ein richtiger Adabei, der „Hausverstand“. Seine Auftritte ereignen sich auf sämtlichen Themengebieten. Ob in Parlaments- oder sonstigen Reden, ob in Zeitungsartikeln oder Interviews oder Wahlprogrammen – wird der „Hausverstand“ bemüht, ist jedenfalls höchste Vorsicht geboten. Wurden denn von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern irgendwelche alarmierenden Studien besprochen oder von Fachleuten diesbezügliche Forderungen aufgestellt? Hatten verwirrte Linke zu viel Tagesfreizeit, um allen Ernstes „soziale Ungerechtigkeiten“ anzuprangern oder gar die Sprech- und Handlungsweisen rechtschaffener Leistungsträger zu beanstanden? Fingert da wer an den guten alten Normen, Werten, Worten herum? Soll jetzt der Schnabel nicht mehr gewachsen sein dürfen, wie er nun mal gewachsen ist, im Land der Äcker, Berge, Täler?
Nicht nur die rechten Recken der FPÖ 17 nehmen die „Politik des Hausverstandes“ für sich in Anspruch, wenn wieder mal der menschengemachte Klimawandel geleugnet oder schlimmste Hetze salonfähig gemacht werden soll. Auch Funktionärinnen und Funktionäre der ÖVP scheinen den Terminus immens liebgewonnen zu haben. 18 Der im „Österreich-Plan“ Karl Nehammers propagierte „Klimaschutz mit Hausverstand“ spottete der fachlichen Expertise und negierte die auf empirischen Forschungen basierenden, wissenschaftlich konsensuell vertretenen Erkenntnisse beziehungsweise die damit in Zusammenhang stehenden Forderungen. Um die althergebrachte Parteilinie beziehungsweise das eingelernte Leistungs- und Wirtschaftswachstumsblabla nicht reflektieren oder gar aufgeben zu müssen, wischt man die Realität beiseite. Statt die eigenen, nämlich stur an den Gegebenheiten als Gewordenheiten vorbeitaumelnden Positionierungen zu revidieren, verunglimpft man jene, welche Gefahren und daraus resultierende Gebote wahrzunehmen und damit verantwortungsbewusst umzugehen entschieden haben und bezichtigt sie der „Ideologie“. Diese Dreistigkeit musste sich etwa die ehemalige grüne Umweltministerin Leonore Gewessler gefallen lassen, nachdem sie im Juni 2024, ihr Tun gewissenhaft und völlig rational erläuternd, dem EU-Renaturierungsgesetz zugestimmt hatte.
Jenseits der Klimapolitik zeigt sich der „Hausverstand“ genauso dauerpräsent. August Wöginger – der vor der skandalösen Wahl von Walter Rosenkranz zum Ersten Nationalratspräsidenten im Oktober 2024 auch die Tradition der „Usancen“ lobte – erweist sich schon seit Jahren als Freund des zur Unterdrückung und/oder Diskreditierung jeglicher Macht- und Herrschaftskritik, zur Abwehr von unliebsamen, den eigenen Privilegien wie Weltauffassungen zuwiderlaufenden wissenschaftlichen Erkenntnissen oder anderen Perspektiven zurechtgestutzten Begriffs. Susanne Raab – seinerzeit darauf bedacht, nicht mit dem „Etikett Feminismus“ versehen zu werden – konstatierte ihrerseits eine Vorliebe für eine „Frauenpolitik mit Herz und Hausverstand“. Christian Stocker, der Anfang Jänner 2025 seinen sogenannten 180-Grad-Schwenk absolvierte beziehungsweise sein Wort brach, als er Kickls Koalitionsverhandlungsangebot annahm, hatte zuvor die ÖVP als jene Partei charakterisiert, die mit „Hausverstand und Besonnenheit“ agiere.
Und im „Vorbildland mit Hausverstand“ entschloss sich Johanna Mikl-Leitner – quasi der personifizierte, mit „Herzblut“ ausgestattete Inbegriff der „normaldenkenden“ „Normalität“ – im März 2023, mit der vom strammen Udo Landbauer geführten FPÖ zu koalieren. Im Rahmen des Schönredens des opportunistischen, zutiefst unehrlichen Gebarens, eine Partei voller rechtsextremer Einzelfälle in die Landesregierung zu hieven, wurde er wiederum bemüht, dieser „Hausverstand“, der „gesunde“ noch dazu. Demselben scheint aber nicht bloß die Kraft des pragmatischen Lenkens der Geschicke des Landes innezuwohnen, sondern auch jene des Bremsens unliebsamer Reflexions- oder Diskussionsprozesse. 19 Wenn nicht weiter erklärt, belegt, begründet oder nachgedacht werden kann oder soll, nimmt man ihn offenbar gerne in Anspruch.
V
Ob „Hausverstand“, „Normalität“ oder „der gottgewollte Gesellschaftsaufbau“, wo das „Gsindl“ gefälligst zu tun hat, was es seit jeher zu tun hat – welcher Wörter oder Wendungen sich Proponentinnen und Proponenten bedenklicher Denk- und Argumentationsverweigerungshaltungen auch immer bedienen: Stets sollte man sich zwei, drei Fragen stellen. Was heißt das, was im öffentlichen Raum geredet wird? Und was wird eventuell wie zu festigen oder zu desavouieren versucht? Und vor allem: Cui bono?
Außerdem müsste man den vom „Leitkultur“-Überlegenheitsgestus eroberten Apologetinnen und Apologeten des „Hausverstands“ eine lange Leseliste zu eben jener Begrifflichkeit empfehlen, die sie da seit längerem besetzt zu halten pflegen. 20 Man sollte sie daran erinnern, dass die Bedeutung eines Worts in seinem Gebrauch liegt. 21 Und vielleicht würde er ja doch viel lieber Richtung Eutopie wollen, zum Buen Vivir für alle, dieser beste Buon Senso 22, wenn man ihn denn ließe.
1 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989–1992. Frankfurt a. M. 2014
2 Der Bedeutungshorizont des „Common Sense“ weist – auch in philosophiehistorischer Hinsicht – eine komplexe Geschichte auf. Während sich in den griechischen Bezeichnungen koinós noûs, koinḕ aísthēsis und koinḗ énnoia je divergierende Aspekte fokussiert bzw. betont finden, vereinigt der lateinische „sensus communis“ bereits sämtliche Komponenten in ein und demselben Ausdruck. Ähnliches geschieht mit dem „Haus- oder Alltags- oder Menschenverstand“. Er meint mal dies, mal jenes. „Sometimes common sense is that plain feet-on-the ground sense of reality available to any clear-thinking person, which can emerge when all the fancy talk of the so-called experts is swept away. Alternatively, common sense is quite the opposite: that collection of provincial, conventional wisdom, superstition, and false consciousness that can be recognized as such and overcome through rigorous thought, rationality, and science.“ (Robert Holton: Bourdieu and Common Sense: SubStance, #84, 1997, S.38) Nun befasse ich mich in diesem Beitrag aber nicht mit Veranschaulichungen der vagen Verfassung der Begrifflichkeit, die in unterschiedlichen Bereichen – von der „Daseinswelt“ bis zur Sozialwissenschaft oder politischen Theorie – facettenreiche bis konträre Weltanschauungen in sich zu bergen vermag. Vielmehr widme ich mich einer spezifischen Inszenierungs- als Gebrauchsform des oftmals zur Worthülse gewordenen Wortes als rabiatem Handlungsakt oder als Totschlagarguments- oder Argumentationsverweigerungsgeste. Selbige wird im öffentlichen Raum gerne – freilich nicht ausschließlich – seitens Konservativ-Liberaler, Rechter bis Rechtsextremer ausgeführt. Mit ihrem inhaltlich armseligen, äußerlich herausstaffierten „Hausverstand“ ziehen sie ins Feld, wenn es gilt, ohne jeden Dia- oder Polylog zu verteidigen, was sie verteidigen, zu verlangen, was sie verlangen wollen. Ihn verbindet nichts mit dem vernünftigen, übers Hegemoniale hinausweisenden, vorherrschend herrschaftsloyalen Behauptungen differenzierend widersprechenden, dem Utopischen beziehungsweise Eutopischen gegenüber aufgeschlossenen und im Zuge von Befreiungsbewegungen bedeutsamen „buonsenso“ Gramscis. Vom „good sense“ als fortschrittlichem Teil des „Alltagsverstands“, der dessen defensive bis reaktionäre Beschränktheiten gegebenenfalls zu überwinden hilft, hält sich der von mir anvisierte „Hausverstand“ lieber entfernt. Und das widerständige Potential der emanzipatorischen Erkenntnisgenese der/des ihrer/seiner Ausbeutung ausgesetzten Magd/Knechts einiger, von Hegel mal mehr, mal weniger stark inspirierter Standpunkttheorien bleibt ihm ebenso fremd. Auch hat er nichts mit jenem „unverfälschten Blick“ des kleinen Kindes zu schaffen, das sich vom feierlichen Prozessionstrara nicht verblenden lässt und einfach feststellt, dass der Kaiser nackt sei und damit preisgibt, was es sieht und in diesem Fall zu sehen ja auch imstande ist. Den bei Gramsci, den Standpoint Theories und dem Kunstmärchen angesprochenen Phänomenen – als Begrifflichkeiten für mögliche Wahrnehmungs-, Betrachtungs- und Weltumgangsweisen – wohnen nämlich ein rationales Moment inne und eine grundsätzliche Offenheit. Diese Versionen des „Common Sense“ tragen, wenn man’s prätentiös umschreiben will, den differenziert differenzierenden Anspruch des Logos in sich. Im Vordergrund steht der Wunsch als Bereitschaft zu Klärung, zu Klarheit.
3 „Alltag bedeutet beides: eine spezifische Welt (…) und eine Anschauungsweise, die zu ihr paßt und die nur zumutbare Erfahrungen durchlässt. (…) Das ist die Blindheit des Alltags, daß er einem die Brille verpaßt, mit der man das sehen kann, was man sehen darf.“ (Utz Jeggle: Alltag. In: Hermann Bausinger u.a. (Hrsg.): Grundzüge der Volkskunde. Tübingen 1978, S. 81–126, S.125)
4 Ich stelle mir einen Hausverstand vor, der „die Wahrheit pachtet“ und „sich einen Hof hält“.
5 „Von symbolischer Herrschaft oder Gewalt sprechen heißt davon sprechen, dass der Beherrschte, von einem subversiven Aufruhr abgesehen, der zur Umkehrung der Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien führt, dazu tendiert, sich selbst gegenüber den herrschenden Standpunkt einzunehmen.“ (Bourdieu, P.: Die männliche Herrschaft. Frankfurt a. M. 2005, S. 202)
6 Bourdieus „Common Sense“ treibt sich im Dunstkreis der „Doxa“ und des „Habitus“ herum. Letzterer umschreibt das inkorporiert Soziale, das eben jenes de facto stabilisiert. (Es erscheint mir wichtig, zumindest zu erwähnen, dass es sich hier weder um ein abgehobenes noch in sich abgeschlossenes „Theoriesystem“ handelt. Ganz im Gegenteil stellt der „Habitus“ im Werk Bourdieus eher einen „Hilfsbegriff“ dar, der auf die Komplexität der Relationalität jener mit soziologischer Methodik zu untersuchenden empirischen Wirklichkeiten hin konzipiert wurde.) Seine Formen fungieren als „Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv ‚geregelt‘ und ‚regelmäßig‘ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein.“ (Bourdieu, P.: Entwurf einer Theorie der Praxisauf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am M. 1978., S.164f.) Laut Holton verweist Bourdieus Habitus im Grunde auf „the structured nature of specific, individual agency, while common sense is, of course, a communal rather than an individual property“. (Robert Holton: Bourdieu and Common Sense: SubStance, #84, 1997, S.39)
7 „Wer sich in dieser Welt „vernünftig“ verhalten will, muß über ein praktisches Wissen von dieser verfügen, damit über Klassifikationsschemata (…), mit anderen Worten über geschichtlich ausgebildete Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die aus der objektiven Trennung von „Klassen“ hervorgegangen (Alters-, Geschlechts-, Gesellschaftsklassen), jenseits von Bewußtsein und diskursivem Denken arbeiten. Resultat der Inkorporierung der Grundstrukturen einer Gesellschaft und allen Mitgliedern derselben gemeinsam, ermöglichen diese Teilungs- und Gliederungsprinzipien den Aufbau einer gemeinsamen sinnhaften Welt, einer Welt des „sensus communis“.“ (Bourdieu, P.: Die feinen Unterschiede. Frankfurt/M. 1982, S.730)
8 Bourdieu, der sich – in welchen Forschungszusammenhängen bzw. bezüglich welcher Fragen auch immer – stets um ein den Prozessen der sozialen Realität entsprechendes Denken in Beziehungsdynamiken bemühte, intendierte, sich zum einen der „Theorie des Subjekts zu entziehen“, ohne zum anderen „den Akteur zu opfern“. Auch Überlegungen zum „Hausverstand“ täten meines Erachtens gut daran, die Notwendigkeit dieses „doppelten Bruches“ zu vergegenwärtigen – zuallererst und freilich mit Nachdruck von der phänomenologischen Naivität der einfach affirmativen Übernahme der Wahrnehmungs- und Sich-Verhaltens-Logik der Menschen und schließlich aber ebenso die Betrachtung der (von zu viel Weitsichtigkeit) blinden Flecken des „Objektivismus/Strukturalismus“, nämlich einerseits in Bezug auf das tatsächliche Gewicht der „illusio“ hinsichtlich der Reproduktion dessen, was „man“ da so und so (falsch) versteht und andererseits hinsichtlich der eigenen sozialen Situiertheit als Begrenztheit.
9 Niemand entkommt der unserer menschlichen Verfassung geschuldeten Notwendigkeit simplifizierender Weltbetrachtungsweisen.
10 Auch diese gestalten sich insofern sowohl willkürlich als auch wirkmächtig, als sie sich zum einen aufgrund konkreter Macht- und Herrschaftsbedingungen so entwickelt haben, wie sie sich eben entwickelt haben und zum anderen als selbstverständlich erscheinen.
11 hat tip: Hannah Arendt
12 Freilich entspricht die Möglichkeit, Postings zu schreiben, nicht der Möglichkeit, ein Fernsehinterview zu geben.
13 Johanna Mikl-Leitner, vgl. Fn. 19
14 Bourdieu, P.: Sozialer Raum und „Klassen“. Zwei Vorlesungen. Frankfurt am M. 1985, S.10
15 Holtons in Bezug auf Bourdieus „Common Sense“-Ausführungen getätigte Unterscheidung in eine „implizite oder explizite Dimension“ empfinde ich im Horizont genereller Diskussionen über öffentliche „Appelle an den Hausverstand“ als durchwegs anregend: „This commonsense world consists of an implicit and explicit dimension, each of which complements the other: the implicit involves „the simplicity and transparency … the feeling of obviousness and necessity which this world imposes“ (…). The explicit includes the articulation of this consensus in the public act of naming the world, “legitimate naming as the official … imposition of the legitimate vision of the social world … which has on its side all the strength of the collective … of common sense““ (R.H., S.40)
16 Trotz einer Vielzahl interessanter internationaler Beispiele – man denke an Trump, der bei seinem Amtsantritt im Jänner 2025 eine „revolution of common sense“ angekündigt hatte –, liegt der Fokus in diesem (aufgrund der gebotenen Kürze komplexe Zusammenhänge nur simplifizierend andeutenden) Beitrag auf der heimischen Politik- beziehungsweise Politikbetriebssprachverwendungsszenerie.
17 Im Burgenland tummeln sich einige Ex-Mitglieder der FPÖ sogar in einer 2024 vom Ex-FPÖ-Klubobmann Géza Molnár gegründeten Partei namens „Liste Hausverstand“.
18 Und dass Doskozils im Sommer 2024 publizierte Autobiografie den markigen Titel „Hausverstand: Mein Leben, meine Politik“ trägt, muss nicht verwundern.
19 Mikl-Leitners Absegnung des von der FPÖ forcierten „Genderverbots“ nennt sich schließlich „Gendern mit Hausverstand“. Und der öffentliche Raum muss nicht etwa sehr dezidiert vor rechtsextremen Umtrieben geschützt werden, sondern die „schweigende Mehrheit“, „die normaldenkende“ der „Mitte“ vor den randalierenden Gender-Sternchen-Freaks: „Der gesunde Menschenverstand stört wie langweiliger Sand das gut geölte Empörungsgetriebe der politischen Ränder.“ (vgl. Artikel im „Standard“, „Kommentar der anderen“: Johanna Mikl-Leitner: „Gendern – der Stern des Anstoßes“, 3.07.2023)
20 Ob Bourdieus die dynamischen Prozesse zwischen sozioökonomischen Bedingungen und Weisen des praktischen Erkennens, Verkennens, Bewertens und Perpetuierens beleuchtenden Schriften, ob Foucaults Konzeption des Alltagsverstands als einer Art Verknüpfungsstelle zwischen staatlicher Machtausübung und Subjektformierung via „Selbstführungstechniken“ oder die Texte Gramscis, der seine differenzierten Analysen der Bewusstseins- und Lebensweisen im Begriffshorizont der „Hegemonie“ verhandelt – Material gäbe es genug.
21 hat tip: Ludwig Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen)
22 hat tip: Antonio Gramsci (vgl. Fußnote 1)