Der Hausverstand sagt von sich selbst, er sei das mehrheitlich geteilte, von vernünftigen und denkfähigen Menschen unbestrittene Verständnis einer Sache, eines Umstands oder eines Vorgangs. Selbstverständliche Voraussetzung dafür sei ein „gesundes“ und „natürliches“ Urteilsvermögen.
Wie bereits René Descartes bemerkte, handelt es sich beim gesunden Hausverstand um „die am besten verteilte Sache der Welt, denn jedermann meint, damit so gut versehen zu sein, dass selbst diejenigen, die in allen übrigen Dingen sehr schwer zu befriedigen sind, doch gewöhnlich nicht mehr Verstand haben wollen, als sie wirklich haben“. Anders ausgedrückt: Kein Mensch hält sich für blöd.
Seit der steinzeitlichen Entstehung von Jäger- und Sammlergesellschaften üben die Menschen sich in Arbeitsteilung; sie spezialisieren sich und stärken die Gemeinschaft mit dem wechselseitigen Zusammenspiel und Austausch lang geübter Fertigkeiten, optimierter Fähigkeiten und vertieften Wissens. Diese Arbeitsteilung ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass wir heute nicht mehr ohne Spezialisten leben können. Angefangen vom Mechaniker bis hin zum Herzchirurgen übernehmen sie die Lösung von Problemen, denen wir allein nicht mehr gewachsen sind. Dass dieses Delegieren von Verantwortung Vertrauen voraussetzt, liegt in der Natur der Sache: Wir vertrauen dem Mechaniker die Autobremsen, dem Chirurgen unser Leben an.
Allerdings zielen die meist ohne jegliches vertiefte Wissen zu Politikern gewordenen Rechtspopulisten darauf ab, dieses Vertrauen zu zerstören, indem sie den Begriff des Hausverstands verzerren und pervertieren: Eigene Standpunkte und Überzeugungen, so reden sie den Menschen ein, seien zuverlässiger als Kompetenz und Fachwissen. Den Hausverstand, von dem schon Friedrich Hegel sagte, dass er allenfalls „triviale Wahrheiten zum Besten“ geben kann, stellen sie als jeder fachkundigen Expertise überlegen dar. „Ihr wisst es besser!“, ist ein Zuruf, den ihre Gefolgschaft gerne hört. Eine Gefolgschaft, die deshalb statt auf den Rat der Ärzte lieber auf Entwurmungsmittel setzt.
Den radikalen Rechten dient der Hausverstand natürlich auch als Mittel der totalen Argumentationsverweigerung. Seine Aussagen sind apodiktisch und verwehren sich gegen jeden noch so wohlerwogenen, fundierten Widerspruch. Beweise und Begründungen sind nicht vonnöten, weil sich ein natürlicher, gesunder Hausverstand nicht irren kann. Wer ihn infrage stellt, muss notgedrungen Teil einer Verschwörung linksgerichteter politischer Eliten sein, die das gesunde Volksempfinden unterwandern, den gesunden Volkskörper unterminieren wollen.
Dem rechtsextremen Hausverstand zufolge sollten daher alle Meinungen, Ideen und Menschen, die ihm widersprechen und besagten Volkskörper zu schwächen drohen, beseitigt werden. Und am Ende auch die überflüssigen, unproduktiven Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen und weniger Ertrag abwerfen als sie kosten: die Behinderten, die Flüchtlinge, die Obdachlosen, letztlich auch die Alten, Ausgedienten. Sie auszumerzen, um den Volkskörper zu stärken, ist die letzte Konsequenz des rechten, des gesunden Hausverstands.