Wo immer eine Demokratie gestürzt und an ihrer Stelle eine totalitäre Herrschaft errichtet wird, dauert es nicht lange, bis die Lager aufgesperrt werden. Meistens passiert das schon am nächsten Tag, die Deportations- und Todeslisten liegen immer schon griffbereit, die neuen Herrscher brauchen sie nur aus der Lade zu holen, und diejenigen, die gern Wächter und Folterknechte spielen, sind auch jedes Mal sofort zur Stelle. Jede Diktatur hat ihre Lager, sie tragen unterschiedliche Namen und Bezeichnungen, aber sie haben immer dasselbe Ziel.
Ein Lager ist kein Gefängnis, Lagerhaft ist kein Strafvollzug, sie ist Ausdruck grenzenloser und willkürlicher Herrschaft und ein Zeichen absoluter Macht, Macht über Leben und Tod. Ziel der Lagerhaft ist nicht der Vollzug einer Strafe und Resozialisierung, sondern das Wegsperren und letzten Endes die Vernichtung der „anderen“. Im nationalsozialistischen Lagersystem wurden die „anderen“ auf vielfältige Weise „vernichtet“, darunter auch durch Zwangsarbeit. Im Konzentrationslager Mauthausen geschah die von der SS so bezeichnete „Vernichtung durch Arbeit“ in den Mauthausener und Gusener Steinbrüchen und ab 1943 auch in der Rüstungsproduktion.
Ich habe meinen Zivildienst im Archiv der Gedenkstätte Mauthausen, das sich im Innenministerium in Wien befand, geleistet. An meinem ersten Tag als Zivildiener musste ich nach Mauthausen fahren, um mich bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Verwaltung der Gedenkstätte vorzustellen. Es war ein dunkler und regnerischer Tag, als ich die Straße zum ehemaligen Konzentrationslager bergan stieg. In der Morgendämmerung erschienen die massiven Mauern aus Granit wie eine mittelalterliche Burg. Ihr Anblick war bedrückend. Je näher ich dem Eingangstor kam, desto kleiner und schwächer fühlte ich mich.
Ein Mitarbeiter der Gedenkstätte zeigte uns Zivildiener die einzelnen Gebäude, darunter auch die Gaskammer im Keller unter dem ehemaligen Krankenrevier. Danach gingen wir in den Steinbruch. Zum ersten Mal sah ich die „Todesstiege“ und die am Rand des Steinbruchs aufragende, von der SS so bezeichnete „Fallschirmspringerwand“, über die Simon Wiesenthal berichtete, dass von dieser fünfzig Meter hohen Felswand an einem einzigen Tag im Jahr 1943 eintausend niederländische Juden von der SS-Wachmannschaft hinuntergestoßen wurden.
Niemand, der einmal die Gedenkstätte Mauthausen besucht und den Steinbruch gesehen und aus dem Mund von Zeitzeugen die Berichte von den Gräueltaten gehört oder darüber gelesen hat, kann danach noch die Drohung „Ab in den Steinbruch“ über die Lippen bringen. Es ist eigentlich nicht vorstellbar, dass jemand mit dem Wissen darum, dass nach Mauthausen und seine Nebenlager 200.000 Menschen deportiert wurden, von denen 120.000 in diesem Lagersystem durch „Arbeit vernichtet“ oder auf andere grausame Weise ermordet wurden, irgendjemandem eine Bestrafung durch Arbeit im Steinbruch wünschen kann.
Später saß ich jeden Tag im Archiv der Gedenkstätte und studierte das Häftlingszugangsbuch, die Häftlingspersonalkarten, die Blockkarteikarten, die Überstellungslisten, Fluchtlisten, Exekutionslisten, die Operationsbücher und das Mauthausener und Gusener Totenbuch. Unter den von der Lager-SS für das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt in Berlin angefertigten Fotografien und Zeichnungen waren diejenigen am schwersten zu ertragen, die Häftlinge zeigten, die im Steinbruch ermordet worden waren oder hier oder beim elektrisch geladenen Lagerzaun Selbstmord begangen hatten.
Niemand kann jemanden „in den Steinbruch“ wünschen. Niemand darf es.