Meine Überlegungen zur Impfpflicht begannen wie bei vielen Österreicherinnen und Österreichern, nachdem unsere Regierung beschlossen hatte, sich der Handvoll Pionierländer anzuschließen, die Impfen per Gesetz vorschreiben, neben der Präsidialdemokratie Indonesien und der Wahlmonarchie Vatikanstaat etwa die autoritären Republiken Tadschikistan und Turkmenistan. Beendet habe ich diesen Text über die Impfpflicht, nachdem ich mich von den Folgen meines dritten Stichs erfangen hatte. Die Injektion bewirkte einen dreitägigen Teil-Knockout und Taumel und das ganz ohne winterlichen Punsch und Glühwein, denn die Wirtshäuser hatten ja wieder einmal zu.
Anders als es die Testimonial-Kampagne der Regierung suggerierte, waren die Reaktionen nach der Verabreichung des Impfstoffs von BioNTech/Pfizer jedenfalls bemerkenswert. Das deutsche Robert Koch Institut verzeichnete unter anderem Abgeschlagenheit (mehr als 60 Prozent), Kopfschmerzen (mehr als 50 Prozent), Muskelschmerzen und Schüttelfrost (mehr als 30 Prozent) sowie Gelenkschmerzen (mehr als 20 Prozent). Die Impfreaktionen entsprachen mitunter also einem milden bis mittleren Verlauf einer Covid-Erkrankung.
Gewiss, die Impfreaktionen waren ungleich weniger schlimm, als ein schwerer Covid-Verlauf und die Impfung schützte zumeist vor Long-Covid. Dies sind auch zwei der entscheidenden, tatsächlich griffigen Argumente für eine Impfung. Es sind neben dem besseren Ansteckungsschutz für meine Mitmenschen auch die Argumente, die mich überzeugt haben. Aber ich entschied mich gemeinsam mit Millionen anderer Österreicher aus freien Stücken für die Impfung. Ich nahm freiwillig in Kauf – und würde es wieder tun –, dass die Impfnebenwirkungen deutlich stärker sind als bei allen anderen Impfungen und ebenso nahm ich das Risiko in Kauf, dass potentielle Langzeitfolgen im Fall eines erstmals eingesetzten genetischen Impfstoffs schlichtweg noch nicht bekannt sein können. Wer also sollte es Menschen verdenken, wenn sie besorgt sind? Sie pauschal als Schwurbler, wissenschaftsfeindlich, Esoteriker, ungebildet oder gar als rechtsradikal zu verunglimpfen, ist nicht nur beleidigend, es zeugt von eingeengter Wahrnehmung.
Sollten FPÖ-Pressemenschen nun drauf und dran sein, diesen Text zu mögen: lassen Sie es. Denn tatsächlich ist es geradezu deprimierend, dass ausgerechnet die unwählbaren Entwurmungs-Freiheitlichen die einzigen im Parlament waren, die gegen eine Impfpflicht aufgetreten sind und sich den Wert der Freiheit auf ihre völkische Fahne heften konnten. Zugelassen haben das alle anderen Parteien. Tatsächlich bedeutete eine Impfpflicht einen Tabubruch in Österreich, dessen Tragweite vielen Entscheidungsträgern nicht bewusst zu sein schien. Früher hatte man für derlei überschießende Maßnahmen ein passendes Sprachbild: Das Kind mit dem Bade ausschütten. Weniger prosaisch formuliert: der soziale und politische Kollateralschaden einer Impfpflicht war weit höher, als der mittels ihr erreichte Nutzen.
Wir Menschen verschrieben uns in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte humanistischen Gesetzen. Die Idee war, dass sie uns tagtäglich leiten, insbesondere aber in unsicheren, in heiklen Zeiten. Eine Impfpflicht würde gegen die wichtigsten Parameter der Charta verstoßen. Gegen Artikel 1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Gegen Artikel 2: Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach … politischer oder sonstiger Überzeugung.
Aber die Freiheit ende doch dort, wo sie die Freiheit anderer gefährde, wird argumentiert. Und dass alleine die Impfpflicht, also die Beschneidung der Freiheit vieler, der breiten Allgemeinheit die ersehnte Normalität zurückbringe und Lockdowns erspare. Diese Diskussion der Verhältnismäßigkeit wäre es wert, geführt zu werden, hätten sich unsere Hoffnungen in die freiheitbringende Wirkung der Impfung bestätigt. Bekanntlich ist das nicht der Fall. Die Impfung lindert den Krankheitsverlauf, aber sie schützt leider nicht ausreichend vor Ansteckung: Selbst in Ländern, die als Pioniere und Impfvorbilder gelten, etwa Israel, Portugal und Spanien, mussten die Regierungen kurz nachdem sie weltweit für ihre Impferfolge gefeiert wurden, die Freiheit der Menschen wieder einschränken.
Dennoch sei die Impfpflicht, argumentiert in Österreich selbst eine Partei, die sich liberal nennt, das „gelindeste Mittel“ gegen die Pandemie. Das zu behaupten ist, pardon, eine Chuzpe. Die Impfpflicht – das gelindeste Mittel? Die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, die Beschneidung der Selbstbestimmtheit eines Menschen – das gelindeste Mittel? In Krisen zeigt sich bekanntlich, wer man im Kern ist. Bei Bürgern wie Politikern zeigt sich, wer besonnen bleibt und wer radikalen Maßnahmen das Wort redet.
Wir alle, gleich ob damals geimpft oder ungeimpft, gleich welche gesellschaftspolitische Meinung wir während der Corona-Pandemie vertraten, wir können heute für uns den persönlichen Reset-Knopf drücken, die Dinge nochmals und frisch überdenken und schließlich entscheiden, welche Art von Mensch wir sein wollen: egoistisch oder sozial, reflektiert oder eigensinnig, gegen die andern oder mit den anderen. Diese Reflexion sollte uns helfen, unser Gegenüber zumindest zu verstehen. Alleine das wird uns allen guttun, heute und künftig, sei es nun im „Normalfall“ des Alltags oder während einer neuen gesellschaftlichen Herausforderung – die wohl zunehmend der „Normalfall“ ist.
Erstveröffentlicht in: „Die Presse“ am 15.1.2022 – fünf Tage, bevor Österreich als einziges EU-Land die Corona-Impfpflicht beschloss. Gekürzte und aktualisierte Fassung.