Voraussetzungen
Festung, die [Substantiv]; Freiheit, die [Substantiv, hier attributiver Genitiv]: zwei semantisch einander ausschließende Begriffe, wobei das Substantiv „Festung“ das Genitiv-Attribut „Freiheit“ regiert; „Festung“ ist das bestimmende Element.
Vorblatt
Frage 1: Wie kann man in einer Festung „frei“ sein? Eine Festung ist ein eng umschlossener Bezirk, in den niemand ohne Erlaubnis des Festungskommandanten hineindarf und aus dem niemand ohne Erlaubnis des Festungskommandanten herauskann.
Frage 2: Kann man frei sein, wenn man sich einsperrt? Warum will man sich einsperren?
Antwort: Damit niemand von außen hereinkommt. Damit alles so bleibt, wie es war. Damit man nicht mit „denen da draußen“ in Berührung kommt.
Charta der „Festung der Freiheit“, §§ 1 bis 7:
§ 1. Die Festung ist eine Schutz- und Sicherheitseinrichtung. Indem sie uns Schutz vor allen unwägbaren Einflüssen gibt, macht sie uns frei, verspricht der Festungskommandant. Heißt: Die Weltöffentlichkeit braucht uns nichts anzugehen. Man muss mit niemandem außerhalb der Festung kommunizieren und an keiner weltumspannenden Entwicklung teilhaben. Man braucht keine fremden Sprachen zu lernen, sich nicht mit fremden Kulturen auseinanderzusetzen. Dieser Schutz bedeutet auch, dass man „unter sich“ bleiben und ungehindert die eigenen Verschrobenheiten und Unzulänglichkeiten pflegen kann. Niemand soll sehen, wie wir sind, sagt der Festungskommandant. Wir wollen uns keine Blöße geben. Deshalb haben die Mauern einer Festung unüberwindlich zu sein, die Tore immer geschossen zu bleiben. Noch besser: Es würde keine Tore geben.
§ 1, Abs. 1. In der Utopie der Endfestung werden Tore und Fenster zugemauert, es soll auch kein Licht mehr von außen hereinfallen, damit nicht noch einmal so etwas „passieren“ könne wie das Licht der Aufklärung. Denn die Aufklärung, sagt der Festungskommandant, hat Türen geöffnet und Mauern eingerissen. Wir wurden schutzlos und fremd. Nun müssen wir die Mauern wieder aufbauen und noch höher ziehen, als es sie je waren. Es darf nie wieder geschehen, sagt der Festungskommandant, dass uns jemand von außen die Richtung unseres Lebens vorgibt. Wir brauchen keine Vorschläge. Wir fühlen uns ohne die kulturellen Errungenschaften, die es draußen gibt, sehr wohl.
§ 2. Die Festung ist eine soziale und emotionale Wohlfühleinrichtung, die ungestörte Freiheit der Gedanken und Gefühle garantiert. Sie ist, um einen dem Begehren des Volkes entgegenkommenden Begriff zu bemühen, „bequem“, indem sie absolute Sicherheit gibt, von jeglichen Einflüssen und jeglicher Kritik unbehelligt zu bleiben. Niemand Fremder kann uns etwas vorschreiben, sagt der Festungskommandant. Kein Diktat von außen!
§ 3. Die Festung hat ihre eigenen Gesetze. Das von diesen Gesetzen bestimmte gesellschaftliche Leben ist also unabhängig.
§4. Um die Ordnung innerhalb der Festung aufrechtzuerhalten, benötigen das freie Denken und das So-sein-Dürfen verbindliche Regeln. Ansonsten herrschte Chaos im Zusammenleben der Festungsbewohner.
§ 4, Abs. 1. Der Festungskommandant gibt mit seiner unverbrüchlichen Lehre vom bleibenden Wert der Dinge die Regeln und die Gedanken vor, indem er allen Bewohnern Klarheit und Zuversicht schenkt; die Festungsbewohner wissen ihm ihre Freiheit zu danken.
§ 5. Die Festung hat auch ihre eigene Volksästhetik. Sehen sie nur die Schönheit der Mauern und Tore, sagt der Festungskommandant. Wo auf der Welt gibt es eine ähnliche Geschlossenheit, Umschlossenheit, Verschlossenheit? Wo außerhalb der Festung darf man so sein, wie man will? Die äußere Ästhetik der Festung ist zugleich die innere Ästhetik des Seins.
§ 5, Abs. 1. Allerdings, hört man, sollen von einzelnen Festungsbewohnern auch Gedanken angestellt worden sein über das So-Sein außerhalb der Festung, weil man weiß: Auch dort leben Menschen, die vermutlich auch so sind, wie sie sein wollen, und die ihre eigene Ästhetik haben. Solche Gedanken, wird hiermit klar festgehalten, widersprechen der Idee der Festung der Freiheit und müssen durch konsequente Selbstübung und Ausschließung unterbunden werden. Kein Gedanke darf durch einen Gedanken von außen beeinflusst werden, nur so kann das Denken frei bleiben.
§ 6. Die Bewohner der Festung bilden eine große Familie und der Festungskommandant ist „ein guter Familienvater“*.
§ 7. Die Festung ist unsere Heimat. Ihre Freiheit ist unumstößlich.
§ 7, Abs. 1. Gemäß der Idee der Festung der Freiheit ist die ultimative Freiheit dann erreicht, wenn niemand mehr den Wunsch verspürt, die Festung zu verlassen, und wenn niemand mehr daran denkt, dass es außerhalb der Festung noch ein Sein gibt.
* FPÖ-Wahlprogramm 2024