„Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, 1947
Es geht um den Wert der Demokratie. Vor allem aber geht es um den Schutz ihrer Glaubwürdigkeit, denn wird diese konstant in Frage gestellt, und werden demokratische Instanzen und deren Legitimität verbal beschädigt, entsteht uns allen irreversibler Schaden. Wie kommt es dazu und was können wir dagegen tun? Dazu bedarf es einer Analyse, eines Fallbeispiels und einiger Überlegungen.
Er ist offensichtlich und wird in den einschlägigen Medien der Neuen Rechten als politische Taktik empfohlen. Zunächst müsse man die Grenzen des gerade noch Sagbaren erweitern, etwa mit Bezeichnungen wie „Denkmal der Schande“ für das Holocaust-Mahnmal oder der Forderung nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“. Die Provokation wecke politische Geister, präge sich tief ein, nicht zuletzt durch die darauffolgende Skandalisierung in der öffentlichen Debatte. Dadurch werde Publikum generiert, auch Beifall erzeugt. Dann erfolge die Phase der Relativierung der Aussage, die Verharmlosung des direkten sprachlichen Bezugs zur Zeit des Nationalsozialismus. Soweit die akkordierte Vorgehensweise.
Durch den Rückgriff auf Ehemaliges wird bestellter Boden aufbereitet und die Töne aus alter Zeit greifen neuerdings wieder. Manche finden auch Gefallen an der tabuisierten Wortwahl, verstehen sie als Gegenwehr zur Woke-Bewegung, die rassistische Denkmuster perlustriert und untersagen möchte. Der Ruf nach Meinungsfreiheit wird laut, hier findet sich die Anschlussstelle zu anderen rechtspopulistischen Thematiken. Bisher vage Verschlüsseltes, schamvoll Verborgenes, darf nun wieder gesagt, die ungewollte politische Korrektheit kann in der Wahlkabine eliminiert werden. Sprache ist Macht, das wurde gut verstanden.
Das bereits alltagssprachlich verwendete Wort greift die Funktionsweise des politischen Systems direkt an, bringt dieses latent in Zusammenhang mit undemokratischen Machenschaften, die dem „Willen des Volks“ zuwiderlaufen. „Systemparteien“ ist ein eingängiger Begriff, den wer möchte sogleich richtig verstehen kann. Beharrlich in den Sprachgebrauch integriert, weist er die übliche Methode auf: aus Pandemie, Asyl, geschlechtsneutraler Sprache, Einwanderung oder Europäischer Union wird Coronadiktatur, illegale Migration, Genderwahn, Umvolkung oder Europa der Vaterländer. Scheinbar evident und leicht fassbar, wird der Volksmeinung ein übermächtiges System, die „Systemparteien“ und ihre „Systempresse“, gegenübergestellt. Da werden schon einmal Menschenrechte oder Minderheitenrechte geistig abgeschafft.
Dass Begriffe wie „Systemparteien“ der Ideologie der NSDAP entnommen wurden, zeigt zudem die historischen Kontinuitäten der völkischen Bewegungen. „Systemparteien“ war der Kampfbegriff der Nationalsozialisten, damals wie heute sind die demokratischen Parteien, „die man mit Feuer und Schwert ausrotten müsse (O-Ton 1932)“, gemeint. So wurde die Periode der Weimarer Republik als „Systemzeit“ verächtlich gemacht, in Österreich vor allem die Zeit der Ersten Republik.
Dies alles tangiert diejenigen Bürger wenig, die sich aus vielerlei Gründen von den politischen Verhältnissen abgewendet haben. Sie wollen einen „Systemwechsel“ zu ihren Gunsten. Die Parole, „Wir sind das Volk“, verschafft ihnen Bedeutung, koste es, was es wolle. Dazu gehört das Versprechen, die scheinbar bedrohliche Migration und die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit zu stoppen. Politiker werden als Staatsfeinde bezeichnet, Volksvertreter als EU-Verräter, Koalitionen als Einheitspartei. Einmal durch ständige Wiederholung etabliert, muss die Bedeutung von „Systemparteien“ nicht weiter erläutert werden. Wie von selbst funktioniert die Abwertung der bestehenden Demokratie und ihrer Verfassung. Ein Selbstläufer auf allen Ebenen. Parlamentarische Mehrheiten als undemokratisch, als „gegen den Volkswillen“ gerichtet, zu delegitimieren, ist mehr als gefährlich.
Es gilt, die Balance zu finden zwischen Protest und Framing, Kritik und Ausgrenzung. Wesentliche Fragen sind zu stellen: Welches andere „System“ wäre tauglicher, wie würde man das bestehende verändern wollen? Welche Konsequenzen hätte dies für diejenigen, die bereits jetzt als Volksverräter, Volksfeinde oder Lügenpresse bezeichnet werden?
Die Plattform der Autorinnen- und Autorenverbände versteht sich auf Sprache und ihre Wirkung und stellt fest: Das freie Wort ist von Hetze und Wiederbetätigung klar zu unterscheiden. Kritik darf nicht die Abwertung politischer Gegner und Andersdenkender bedeuten. Demokratischen Instanzen ist mit Respekt zu begegnen. Dafür treten wir ein.