Nichts scheint leichter, als über Brüssel zu schimpfen. Als Bewohner* über die nur allzu oft als dysfunktional und chaotisch erlebte Stadt, als Bürger der Europäischen Union über deren Institutionen, von denen die wichtigsten mit Ausnahme des in Luxemburg angesiedelten Europäischen Gerichtshofs in der belgischen Hauptstadt ihren Sitz haben. Unter dem Synonym „Brüssel“ werden sie in der Öffentlichkeit, vor allem aber von rechts- und linkspopulistischer Seite, bei jeweiligem Bedarf auch von jedem dazwischen, je nach Gusto, als Unsummen an Steuergeld verschlingender Hort zentralistischen Diktats, globalistischer Verschwörungen, kapitalistischen Konzernbütteltums, realitätsferner Regulierungswut, schlicht als das Zentrum des vor allem in Wahlkämpfen oft zitierten „EU-Wahnsinns“ wahrgenommen, welchen es zu bekämpfen, zurechtzustutzen, einzudämmen oder zu heilen gelte.
„Brüssel“, das sind das Parlament (das zudem im französischen Straßburg tagt, worauf ein anderer Kampfbegriff fußt, „Wanderzirkus“), der Rat (der als Gremium der Staats- und Regierungschefs aber nur bedingt mit der Union an sich assoziiert wird) und vor allem die Kommission, die man wohl am stärksten mit dem Moloch „Brüssel“ als Gegenteil all dessen verbindet, was vom gesunden Hausverstand (auf rechter Seite), vom aufgeklärten Humanismus (auf linker) oder neuerdings von dynamischer Technologiegläubigkeit (unter Libertären) gutgeheißen wird.
Die harmloseren Anklagepunkte gegen „Brüssel“, also all die rund um den Rond-point Schuman tätigen Beamten und Politiker sind: Korruption, Behäbigkeit, Verschwendung und wahlweise Faulheit oder aber Lust an der bösartigen Schikane des hart arbeitenden und zur Finanzierung des Ganzen ausgepressten Bürgers, und das alles bei exorbitanten Gehältern und allerlei fantastischen Privilegien. Beamte und Politiker sind zwar seit Menschengedenken Zielscheibe von Anfeindungen und Missgunst, jedoch scheinen jene, die man mit „Brüssel“ meint, nicht nur mit derlei auch für ihre Berufskollegen auf nationaler Ebene üblichen Unterstellungen und Vorurteilen bedacht zu werden, vielmehr werden ihnen geradezu leidenschaftlich vorsätzlich böse, ja verbrecherische Absichten unterstellt, wobei die Kritik wie so oft in der Verdammung der liberalen Demokratie und ihrer Repräsentanten sowohl von rechts wie auch von links kommt: Die Europäische Union, für die „Brüssel“ steht, gilt den einen wegen einer als übertrieben empfundenen „Flut“ an Gesetzen und Regulierungen als Projekt eines entmündigenden, schikanösen Ökokommunismus und somit schwere Bürde in der Konkurrenzfähigkeit mit weniger reglementierten Systemen wie China oder den USA, den anderen wiederum aufgrund allzu sorgloser Wirtschaftsfreundlichkeit, der Liebe zum freien Markt und des Fetisch für Deregulierung als nichts weniger als der Wegbereiter eines Faschismus des 21. Jahrhunderts. „Brüssel“ scheint also zur Zielscheibe recht widersprüchlicher Arten von Unzufriedenheit, Wut und Hass zu taugen, als Projektionsfläche für jeglichen dystopischen Blick auf die Gegenwart. Und wer als Politiker oder Beamter für dieses ökokommunistische/protofaschistische, in jedem Fall imperialistische/hyperkapitalistisches/bürokratische „Ungetüm“ tätig ist oder es nur verteidigt, gilt entweder als einer bösen Agenda verdächtig (weil er sicher auch auf einer Lobbyisten-Payroll steht) oder im besseren Fall als zu dumm und zu naiv um zu erkennen, dass seine Ideale von einem durch und durch korrupten und den Kontinent ins Verderben führenden, gleichermaßen überreglementierenden wie neoliberalen Klüngel zwecks Blendung der Öffentlichkeit missbraucht werden. Ähnlich verhält es sich mit der – apropos – Person Ursula von der Leyen selbst, die seit ihrer ersten Wahl zur Kommissionspräsidentin 2019 damit leben muss, dass sowohl Rechte als auch Linke den ihr angemessenen Platz in einem Gefängnis oder wenigstens vor einem Richter sehen, jedenfalls nicht an der Spitze des Exekutivorgans der Union, wo sie nach „Gutsherrenart“ und „diktatorisch“ herrsche. Ob wegen der zu untersuchenden Vorgänge rund um die Impfstoffbeschaffung während der Corona-Pandemie, oder weil sie als angeblich „fanatische Kriegstreiberin“ im Auftrag der Rüstungsindustrie den Konflikt mit Russland eskalieren ließ. Die naturgemäß oft berechtigte Kritik driftet gegenüber von der Leyen als dem gegenwärtigen Gesicht von „Brüssel“ wie gegenüber der Europäischen Union insgesamt vehementer ins Schrille, Verhetzende, ja Gewaltvolle ab, als sie es im Falle anderer Politiker und anderer Institutionen je würde. Und sie lässt oft ein Mindestmaß an Anstand und Verhältnismäßigkeit vermissen, die eine in Demokratien legitime und notwendige öffentliche Kritik an Amtsträgern und Körperschaften, an politischen Entwicklungen und Entscheidungen eigentlich erfordern.
Gewiss, der politische Diskurs ist insgesamt vergiftet, das betrifft nicht nur die Union, doch was mit dem simplifizierenden Kampfbegriff „Brüssel“ als Synonym für alles politisch vermeintlich Böse scheinbar harmlos beginnt, trägt mit seiner zunehmenden Etablierung und Normalisierung die fortschreitende Dämonisierung der europäischen Institutionen die Tragödie bereits in sich, sofern man, wovon ich ausgehe, das Auseinanderbrechen der EU als Tragödie begreift. Jede Reproduktion des Begriffs „Brüssel“ als Bezeichnung eines seelenlosen, autoritären Machtzentrums, das die „normale Bevölkerung“ gängele, stärkt jene Parteien am (meist rechten, mitunter auch linken) Rand, für die „Brüssel“ konstitutiv aus politischem Kalkül das Feindbild schlechthin ist, das es ebendort auch zu bekämpfen gilt. Sie sitzen sodann vermehrt in Parlament und im Rat und zerstören diese Institutionen von innen heraus, indem sie all das verächtlich machen, behindern und schließlich verunmöglichen, was die Demokratie in ihrem Wesen ausmacht und wofür „Brüssel“ wenn schon, dann als einziges steht oder zumindest stehen sollte (und worin auch der wesentliche Grund dafür zu finden ist, weswegen es als Synonym für die Institutionen der Union zum Feindbild so unterschiedlicher politischer Strömungen von Moskau bis, neuerdings, Washington taugt): den auf Grundsätzen und einem Regelwerk basierenden Kompromiss zwischen divergierenden Interessen zwischen Institutionen und Körperschaften zu suchen und zu finden, ohne dass es dabei eindeutige Sieger und Besiegte gibt, schon gar nicht Triumphatoren und Gedemütigte. Das also, was eine liberale Demokratie im Unterschied zu einem autoritären Staat ausmacht.
Der Kompromiss ist natürlich oft langweilig, meist unbefriedigend, immer mühsam und auch fordernd, ein permanenter, ewiger (und der Logik der Kampfbegriffe folgend mitunter als „Basar“ geframter) Verhandlungsprozess, der nicht erlöst, nichts endgültig klärt, keine „Ruhe“ schafft, weil er sich per definitionem jeder Eindeutigkeit verwahrt, der Eindeutigkeit von „gut“ und „böse“ zumal, die in einer von der Logik der sozialen Medien beherrschten Diskurswelt gebraucht und forciert wird, welche wiederum den Populisten so entgegen kommt und zu unser aller Gefahr das Denken von immer mehr Bürgern in der analogen Welt und somit in ihren politischen Handlungen beherrscht. Dabei hat eine solche Eindeutigkeit nichts mit der Wirklichkeit einer möglichst freien und möglichst gerechten demokratischen liberalen Gesellschaft zu tun, die sich noch dazu auf mehr als zwei Dutzend Staaten verteilt und von den so schlecht beleumundeten europäischen Institutionen bei aller legitimen Kritik ziemlich solide verwaltet und gestaltet wird, zwar nicht perfekt, oft unzulänglich, ärgerlich, kritik- und aufklärungswürdig, aber eben auch und vor allem: auf Grundsätzen und einem Regelwerk basierend. Wenn wir daher Entscheidungen oder die Verfasstheit der europäischen Institutionen kritisieren, dann möge das sachlich und konstruktiv geschehen und nicht durch die Verwendung eines schwammigen populistischen Kampfbegriffs wie „Brüssel“, der ein Machtzentrum suggeriert, das es so nicht gibt. Als Verfechter eines demokratischen vereinten Europa sollten wir uns diesen Begriff vielmehr zurückholen und positiv besetzen, sodass „Brüssel“ eines Tages ganz selbstverständlich und jedenfalls wahrhaftig für den guten Kompromiss und das Wunder der europäischen Einigung steht, ein bei aller Unvollkommenheit für die Staaten des Kontinents überlebensnotwendiges Friedensprojekt, das auf die Schrecken in Verdun und Auschwitz folgte und den Angriffen von Putinismus und Trumpismus gleichermaßen standgehalten hat.
* In diesem Text verwende ich der Einfachheit halber das generische Maskulinum.