Anstand, Abstand, ausgrenzen
Sechs Anmerkungen und ein Resümee
1. Es ist selbst in reflektierter Sprache möglich, sich lebens- , menschen- und demokratiefeindlich zu äußern. Daraus kann und darf jedoch nicht der Verzicht auf eine kritisch-gründliche Auseinandersetzung mit dem Sprachgebrauch und mit einzelnen Begriffen resultieren.
2. Bereits Victor Frankl, KZ- und Holocaustüberlebender, Arzt, Autor, Psychiater und Begründer der Logotherapie, hatte schon bald nach den Nazi-Gräueln dem pathologisch grausamen Himmler den Ausdruck „anständig“ wieder entrissen: „Der Nationalsozialismus hat den Rassenwahn aufgebracht. In Wirklichkeit gibt es aber nur zwei Menschenrassen, nämlich die ’Rasse’ der anständigen Menschen und die ’Rasse’ der unanständigen Menschen“ (siehe dazu auch: Michael Wolffsohn „Eine andere jüdische Weltgeschichte“, 2023).
3. Für Mafia-Familien ist Anstand vermutlich etwas anderes als für Arme, die ihr Weniges teilen, auch außerhalb des Clans. Oder für Händler, die sich um faire Produktionsweisen und ebensolche Entlohnung der Arbeiter*innen einsetzen. Aber vor allem stolpert dieses Wort über die vielen Bezugsfäden und weit gespannten Differenzen in einer pluralistischen Gesellschaft.
4. „Anstand“ kann also im schlimmsten Fall den Weg zu Radikalismus öffnen, weisen. Im besseren Fall Markierung sein für aufrichtige Selbstreflexion, Arbeit am eigenen Schatten, am eigenen Gewissen, an Kontemplation – also Austausch und Kontakt mit dem feinen, stillen inneren Kompass. Dieser An-Stand, dieses Innehalten wird als Kraft erlebt, als Aufrichte-Kraft spürbar: mit Abstand und in Abgrenzung zu allem Lebens-, Dialog- und Demokratiefeindlichem.
5. „Anstand“, „anhalten“, „Halt finden“, „Abgrenzen“ im Orkan der Meinungen und Erwartungen, Bedingungen, Bedrohungen, vielleicht passt diese Art von Innerlichkeit, diese Entschleunigung nicht so vortrefflich in unsere Gegenwart. „Anstand“ beinhaltet auch Widerstandskraft. Abgrenzungskraft.
6. „Anständig“, „stehen“ etc., all diese Wörter stammen aus dem Griechischen bzw. den indogermanischen Dialekten, auch im Neugriechischen verwendet z.B. für „Haltestelle“ („Station“) oder „stehen bleiben“, „beenden“.
Insgesamt entzieht sich Sprache als etwas Fluides gern dem Fest-Nageln. Man betrachte nur die vielen Bedeutungsnuancen und Einsatzmöglichkeiten allein z.B. der Silbe „ver-“. Auch gibt es etliche Sprachen, wo z.B. „geben“ und „nehmen“ idente Verben sind.
Ja, und Sprache „muss“ auch cool sein, chic, überlegen, knisternd und sexy. „Muss“ herhalten zum Dominieren, Verblüffen, Schwindeln, Lügen und Manipulieren, leider. Neologismen kommen aus verschiedensten Richtungen, auch die Codes, Anti-Codes, Wert- und Bedeutungsverschiebungen.
Mit Worten können Menschen (folgende Liste unvollständig, aber fast unendlich) ab- und ausgrenzen, bluffen, kalmieren, danken, denunzieren, ehelichen, eingrenzen, faulenzen, gängeln, harmonisieren, individualisieren, jagen, kalkulieren, lachen, lernen, mauscheln, nuscheln, ordnen, plauschen, provozieren, quacksalbern, riskieren, scheitern, skandieren, stimulieren, täuschen, transzendieren, umstimmen, verzeihen, wählen, wurschteln, zaubern, zaudern, zensieren etc. etc.